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Als Gott ein Kaninchen war

Als Gott ein Kaninchen war

Titel: Als Gott ein Kaninchen war
Autoren: S Winman
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irgendjemand, den ich je gesehen hatte. Er hatte schlohweißes Haar und trug ein cremefarbenes Jackett aus Cordsamt, das an ihm herunterhing wie schlaffe Haut. Er blickte sich zu beiden Seiten der Straße um, bevor er zur Eingangstür eilte. Als er an uns vorbeikam, blieb er kurz stehen und sagte: » Guten Morgen.« Er hatte einen seltsamen Akzent– ungarisch, wie wir später erfuhren.
    » Sie sind aber alt«, sagte ich. (Eigentlich hatte ich » Hallo« sagen wollen.)
    » Ich bin so alt wie die Zeit«, erwiderte er und lachte. » Wie heißt du?«
    Ich nannte ihm meinen Namen, er streckte mir die Hand entgegen, und ich schüttelte sie ganz kräftig. Ich war vier Jahre, neun Monate und vier Tage alt. Er war achtzig. Und doch löste sich der Altersunterschied zwischen uns so rückstandslos auf wie Aspirin in Wasser.
    Bald schon vermied ich es, auf der Straße zu spielen und verbrachte die Zeit stattdessen in Mr Golans verbotener Welt aus Kerzen und Gebeten. Alles dort war ein Geheimnis, und ich hütete jedes einzelne wie ein zerbrechliches Ei. Er sagte mir, dass an Samstagen nichts außer dem Fernseher benutzt werden durfte, und wenn er aus der Schul heimkam, aßen wir exotische Gerichte. Gerichte, die ich noch nie zuvor gegessen hatte, wie Matzenbrot und gehackte Leber und Heringe und Gefilte Fisch – Gerichte, die » die Erinnerung an das alte Land« weckten, sagte er.
    » Ah, Cricklewood«, sagte er dann und wischte sich eine Träne aus den blauen, feuchten Augen. Erst später am Abend erfuhr ich von meinem Vater, der bei mir am Bett saß, dass Cricklewood weder an Syrien noch an Jordanien grenzte und dass es gewiss keine eigene Armee hatte.
    » Ich bin Jude«, sagte Mr Golan eines Tages zu mir, » aber vor allen Dingen bin ich Mensch.« Ich nickte, als würde ich wissen, was er meinte. Die Wochen vergingen, und ich hörte seinen Gebeten zu, dem Schma Jisrael, und war überzeugt, dass kein Gott so schöne Klänge ignorieren konnte. Oft griff er auch zu seiner Violine und überließ es den Noten, dem göttlichen Herzen die Worte zuzutragen.
    » Hörst du, wie sie weint?«, fragte er mich, während der Bogen über die Seiten glitt.
    » Ja, ja ich höre es«, antwortete ich.
    Ich saß oft stundenlang da, lauschte der traurigsten Musik, die Ohren ertragen konnten, und war dann, wenn ich nach Hause kam, oft nicht in der Lage zu essen, nicht einmal in der Lage zu sprechen, und eine tiefe Blässe lag auf meinen kindlichen Wangen. Dann setzte sich meine Mutter an mein Bett, legte mir die kühle Hand auf die Stirn und sagte: » Was hast du? Bist du krank?« Aber was konnte ein Kind schon sagen, das begonnen hatte, den Schmerz eines anderen zu verstehen?
    » Vielleicht sollte sie nicht so viel Zeit mit dem alten Abraham verbringen«, hörte ich meinen Vater vor meiner Zimmertür sagen. » Sie braucht Freunde in ihrem Alter.« Aber ich hatte keine Freunde in meinem Alter. Und ich konnte mich nicht von ihm fernhalten.
    » Das Erste, was wir finden müssen«, sagte Mr Golan, » ist ein Grund zu leben.« Er betrachtete die kleinen, bunten Pillen in seiner Handfläche und schluckte sie dann schnell hinunter. Er fing an zu lachen.
    » Okay«, sagte ich und lachte auch, obwohl der Schmerz in meiner Magengegend, den ich spürte, Jahre später von einem Psychologen als » Nervensache« erkannt werden würde.
    Dann öffnete er das Buch, das er immer bei sich trug, und sagte: » Warum sollte man sich ohne einen Grund damit herumplagen? Existenz erfordert einen Zweck: damit man in der Lage ist, die Qualen des Lebens mit Würde zu tragen, damit wir einen Anlass haben, weiterzumachen. Der Sinn muss unser Herz erfüllen, nicht unseren Kopf. Wir müssen den Sinn unseres Leidens begreifen.«
    Ich betrachtete seine alten Hände, die so trocken waren wie die Seiten, die er damit umblätterte. Er sah nicht mich an, er sah zur Decke, als seien seine Ideale bereits dem Himmel verpflichtet. Ich konnte nichts dazu sagen und sah mich gezwungen zu schweigen, gefangen in Gedanken, die so schwer zu verstehen waren. Und bald fing mein Bein an zu jucken; eine kleine Schuppenflechte, die Zuflucht unter meiner Socke gefunden hatte, wurde heiß und schwoll an. Ich musste mich dringend kratzen– erst sachte, aber dann mit einer unersättlichen Vehemenz, die den Zauber aus dem Raum vertrieb.
    Mr Golan sah mich etwas konfus an.
    » Wo war ich stehengeblieben?«, fragte er.
    Ich zögerte einen Moment.
    » Leiden«, sagte ich leise.
    » Versteht ihr?«, sagte
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