Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als Gott ein Kaninchen war

Als Gott ein Kaninchen war

Titel: Als Gott ein Kaninchen war
Autoren: S Winman
Vom Netzwerk:
ich später, als sich die Gäste meiner Eltern um den Fonduetopf versammelt hatten. Es wurde still im Raum, nur das Gruyère- und Emmentalergemisch gurgelte leise vor sich hin und verströmte seinen intensiven Geruch.
    » Der, der weiß, warum er lebt, kann fast jedes wie ertragen«, sagte ich andächtig. » Das ist Nietzsche«, fügte ich mit Nachdruck hinzu.
    » Du solltest längst im Bett sein, statt dir Gedanken über den Tod zu machen«, sagte Mr Harris von Haus Nummer siebenunddreißig. Er war schlecht gelaunt, seit seine Frau ihn vor einem Jahr verlassen hatte, nach einer Affäre mit (getuschelt) » einer anderen Frau«.
    » Ich wäre auch gern jüdisch«, verkündete ich, als Mr Harris gerade ein großes Stück Brot in den blubbernden Käse tauchte.
    » Darüber reden wir morgen«, sagte mein Vater und füllte die Weingläser nach.
    *
    Meine Mutter legte sich zu mir aufs Bett. Ihr Parfüm strich mir übers Gesicht wie ein Atemzug, ihre Worte rochen nach Dubonnet und Limonade.
    » Du hast gesagt, wenn ich älter bin, kann ich alles sein, was ich will«, sagte ich.
    Sie lächelte und sagte: » Das kannst du auch. Aber jüdisch zu werden ist nicht gerade leicht.«
    » Ich weiß«, erwiderte ich niedergeschlagen, » ich brauch erst so eine Nummer.«
    Plötzlich erstarb ihr Lächeln.
    Es war ein schöner Frühlingstag gewesen, als ich ihn danach fragte. Natürlich hatte ich sie schon vorher bemerkt, denn Kindern fällt so etwas auf. Wir waren im Garten, und er krempelte seine Hemdsärmel hoch, und da war sie.
    » Was ist das?«, fragte ich und zeigte auf die Nummer auf der dünnen, fast durchsichtigen Haut seines Unterarms.
    » Das war einmal meine Identität«, antwortete er. » Im Krieg. In einem Lager.«
    » Was für ein Lager?«, wollte ich wissen.
    » So etwas wie ein Gefängnis.«
    » Hast du etwas Unrechtes getan?«
    » Nein, nein«, sagte er.
    » Warum warst du dann dort?«, hakte ich weiter nach.
    » Ah«, sagte er und hob den Zeigefinger, » die große Frage. Warum waren wir da? Ja, warum waren wir da?«
    Ich blickte ihn an, erwartete seine Antwort; aber er gab mir keine. Und dann sah ich wieder auf die Nummer: sechs Ziffern, die scharf und dunkel hervorstachen, als seien sie erst gestern geschrieben worden.
    » Es gibt nur eine Geschichte, die aus so einem Ort hervorgeht«, sagte Mr Golan leise. » Eine von Grauen und Leid. Nichts für deine jungen Ohren.«
    » Ich würde sie aber gern hören. Ich will über das Grauen Bescheid wissen. Und über das Leid.«
    Mr Golan schloss die Augen und legte die Hand auf die Nummer an seinem Arm, als sei sie der Code zu einem Safe, den er nur selten öffnete.
    » Dann werde ich sie dir erzählen«, sagte er. » Komm her. Setz dich zu mir.«
    Meine Eltern waren im Garten und befestigten gerade ein Vogelhäuschen am kräftigen untersten Ast des Apfelbaums. Ich hörte ihr Lachen und ihre fröhlichen Anweisungen, das » Höher!«, » Nein, niedriger!« ihrer aufeinanderprallenden Blickwinkel. Normalerweise wäre ich mit ihnen da draußen gewesen. Das war eine Aufgabe, an der ich mich früher an einem so schönen Tag mit Begeisterung beteiligt hätte. Aber in den letzten Wochen war ich stiller geworden. Eine Introvertiertheit hatte mich erfasst, die mich immer stärker zu Büchern hinzog.
    Ich saß lesend auf dem Sofa, als mein Bruder die Tür öffnete und verlegen im Türrahmen stehen blieb. Er wirkte bekümmert; das konnte ich immer daran sehen, dass sein Schweigen fadenscheinig war und ganz offensichtlich nach einer Störung durch Lärm lechzte.
    » Was gibt’s?«, fragte ich und ließ mein Buch sinken.
    » Nichts«, erwiderte er.
    Ich nahm mein Buch wieder hoch, doch sowie ich es getan hatte, sagte er: » Sie schneiden mir meinen Pimmel ab, weißt du. Oder zumindest ein Teil davon. Sie nennen es Beschneidung. Deshalb war ich gestern im Krankenhaus.«
    » Welchen Teil?«, wollte ich wissen.
    » Das vorderste Stück«, sagte er.
    » Tut das weh?«
    » Ja, vermutlich.«
    » Warum machen sie es dann?«
    » Die Haut ist zu eng.«
    » Oh«, sagte ich und muss leicht irritiert gewirkt haben.
    » Schau«, sagte er etwas hilfreicher. » Du hast doch diesen blauen Rollkragenpulli? Der, der dir zu klein ist.«
    » Ja.«
    » Na, und weißt du noch, als du versucht hast, deinen Kopf durchzubekommen und es nicht ging und du steckengeblieben bist?«
    » Ja.«
    » Na ja, dein Kopf ist wie mein Pimmel. Sie müssen die Haut abschneiden – den Rollkragenteil –, damit der Kopf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher