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Als Gott ein Kaninchen war

Als Gott ein Kaninchen war

Titel: Als Gott ein Kaninchen war
Autoren: S Winman
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Reisebusses, der zwischen zwei Pinien hing wie eine Hängematte.
    Bei dem Unfall gab es nur einen Überlebenden, den deutschen Reiseführer, der gerade einen neuen Skihelm anprobiert hatte, als das Unglück seinen Lauf nahm– was ihm offenbar das Leben rettete. Von seinem Krankenbett in Wien aus blickte er in die Fernsehkamera, während ihm eine weitere Dosis Morphium verabreicht wurde, und erzählte, dass, auch wenn es sich natürlich um einen sehr tragischen Unfall handle, alle gerade gegessen hätten und somit sicher glücklich und zufrieden gestorben seien. Ganz offenbar hatte das Trauma des Sturzes in die Felsschlucht sein Erinnerungsvermögen verzerrt. Vielleicht hatte sein mit Knödeln und Strudel gefüllter Magen aber auch tatsächlich den Aufprall gedämpft. Wir werden es nie erfahren. Doch die Fernsehkamera blieb beharrlich auf sein geschwollenes, zerschrammtes Gesicht gerichtet, wohl in der Hoffnung auf einen Moment der Feinfühligkeit und des Trostes für die von tiefer Trauer erfüllten Familien zu Hause. Doch er kam nicht. Mein ganzes zweites und weit in mein drittes Lebensjahr hinein war meine Mutter untröstlich. Sie sagte, sie hätte keine Erinnerung an die Zeit, keine Anekdoten meiner ersten Gehversuche oder der ersten drolligen Worte, jene Ereignisse, die einem Aufschluss darüber geben konnten, was aus dem Kind werden würde. Für sie verschwammen die Tage wie hinter einem beschlagenen Fenster, das sauber zu wischen sie keinerlei Interesse hatte.
    » What’s Going On«, sang Marvin Gaye, aber keiner kannte die Antwort.
    Und doch war das auch der Augenblick, in dem mich mein Bruder bei der Hand nahm und mich beschützend in seine Welt führte.
    Zuvor hatte er die Ränder meines Lebens gesäumt wie ein kreisender Mond, schwankend zwischen Neugier und Gleichgültigkeit, und so wäre es vermutlich geblieben, wäre das Schicksal an jenem folgenschweren, tragischen Nachmittag nicht mit einem Tiroler Reisebus kollidiert.
    Er war fünf Jahre älter als ich und hatte blondes, lockiges Haar, das in unserer Familie so ungewöhnlich war wie der brandneue Wagen, den mein Vater eines Tages kaufen sollte. Er war anders als andere Jungen in seinem Alter; ein exotisches Wesen, das sich nachts heimlich den Lippenstift unserer Mutter auftrug, nur um mein Gesicht dann mit Küssen zu übersäen, die mich hinterher aussehen ließen, als hätte ich einen allergischen Ausschlag. Das war sein Ausweg aus einer zu konservativen Welt. Die stille Rebellion eines absoluten Außenseiters.
    Ich wuchs zu einem wissbegierigen, begabten Kind heran; eines, das im zarten Alter von vier Jahren schon lesen und buchstabieren konnte und Gespräche zu führen vermochte, die eigentlich achtjährigen Kindern vorbehalten waren. Meine Verbündeten waren aber weder Frühreife noch Hochbegabung, sondern dieser ältere Bruder, der inzwischen total verrückt nach Noël Coward und den Liedern von Kander and Ebb war. Er bot eine farbenfrohe Alternative zu einem fest vorgeplanten Leben. Und jeden Tag, wenn ich auf seine Rückkehr aus der Schule wartete, war ich voll gespannter, ja fast körperlicher Sehnsucht. Ohne ihn fühlte ich mich nicht ganz. Tatsächlich würde sich das auch nie ändern.

» Liebt Gott jeden?«, fragte ich meine Mutter und streckte meinen Arm über eine Schale Sellerie, um das letzte Stück Teegebäck zu ergattern. Mein Vater blickte von seinen Akten auf. Er blickte immer auf, wenn jemand Gott erwähnte. Es war ein Reflex, als erwarte er, geschlagen zu werden.
    » Natürlich tut er das«, antwortete meine Mutter und hielt beim Bügeln inne.
    » Liebt Gott auch Mörder?«, bohrte ich weiter nach.
    » Ja«, sagte sie. Mein Vater sah sie an und gab einen missbilligenden Laut von sich.
    » Auch Räuber?«
    » Ja.«
    » Auch Kaka?«
    » Kaka ist kein lebendiges Wesen, Schatz«, sagte sie ernst.
    » Aber wenn es eins wäre, würde Gott es dann lieben?«
    » Ja, ich nehme an, das würde er.«
    Das war nicht wirklich hilfreich. Gott liebte alle, wie es schien, außer mich. Ich pulte das letzte Stückchen Schokoverzierung vom Keks und legte die Marshmallow-Marmeladenfüllung frei.
    » Alles in Ordnung mit dir?«, fragte meine Mutter.
    » Ich geh nicht mehr in die Sonntagsschule.«
    » Halleluja!«, rief mein Vater. » Da bin ich aber froh.«
    » Aber ich dachte, es hat dir dort gefallen?«, sagte meine Mutter.
    » Nicht mehr«, erwiderte ich. » Mir hat eigentlich sowieso nur das Singen gefallen.«
    » Singen kannst du auch hier«,
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