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Alles auf Anfang

Alles auf Anfang

Titel: Alles auf Anfang
Autoren: Benioff David
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Weg.«

    Am nächsten Tag fingen medizinisch-technische Assistentinnen an, Hectors Kopf mit Röntgenstrahlen zu bombardieren.
    Mit den Wochen, die vergingen, begann sein Körper auszutrocknen; die Muskeln schwanden von seinen Knochen, die Knochen drückten gegen seine Haut, die Haut wurde schlaff und fahl, bis sie nur noch wie billiges Papier wirkte, das hastig um in letzter Minute erstandene Geschenke gewickelt worden war.
    Im November schien es ihm zwei Wochen lang besser zu gehen. Er war jeweils ein paar Stunden wach und nickte mir zu, wenn ich ihm löffelweise Pudding und Apfelmus fütterte, und lächelte schwach, wenn ich ihm die Lippen abwischte.
    Bei einer solchen Gelegenheit bat er mich, sein Bild in die Klinik zu bringen.
    »Ich habe es nie zu Ende gemalt«, erklärte ich ihm. »Es sah nie so gut aus wie du.«
    »Bring es her«, sagte er. »Ich möchte es sehen.«
    Am nächsten Tag brachte ich ihm das gerahmte Gemälde, das zwischen zwei Lagen Wellpappe steckte. Ich hatte Hector nackt gemalt und wollte nicht, dass die Leute auf der Straße, in der Subway, sein unbekleidetes Abbild anstarrten. Hector nickte, als ich ihm das Gemälde zeigte, und wies mich an, es auf das Fensterbrett zu stellen.

    »Willst du, dass es jeder sieht?«, fragte ich und blickte auf das Gemälde. Der muskulöse, gesunde Hector schaute mich an. Aber das war eine dumme Frage. Ich stellte das Gemälde auf das Fensterbrett und trat einen Schritt zurück.
    »Nein«, sagte er und schloss die Augen. »Der Rahmen gefällt mir nicht. Kein Schwarz. Besorge einen aus Holz, einem hellen Holz.«
    Später in der Woche, als das Gemälde neu gerahmt war, nickte er. »Das ist hübsch. Ich sehe gut aus.«
    »Ja«, sagte ich. »Du siehst gut aus.«
    »Was ist daran noch nicht fertig?«
    »Deine Füße«, sagte ich. Ich deutete auf seine gemalten Beine, die an den Knöcheln endeten. Auf dem Gemälde schwebte Hector, zwischen dem Betonboden des Fleischerladens und der Stelle, wo er begann, nur eine leere Fläche.
    Hector lächelte und schloss die Augen. »Füße sind schwer.«

    Am Silvesterabend schmuggelte ich eine Flasche Champagner in Hectors Zimmer im achten Stock. Eine Woche davor hatte er das Bewusstsein verloren. Ich füllte Plastikbecher für uns beide, setzte mich zu ihm und sah fern, verfolgte, wie sich am Times Square die große Kugel herabsenkte, verfolgte, wie Tausende von kleinen Glühbirnen die riesige Zahl 1994 erstrahlen ließen, verfolgte, wie Feuerwerkskörper auf dem kleinen Bildschirm explodierten. Eine Schwester kam ins Zimmer, um Hectors Atmung und Puls zu kontrollieren; sie drohte mir mit dem Finger, trank dann aber ein Glas mit. Sie blieb zehn Minuten bei uns und sang mit mir zusammen »Auld Lang Syne«.

    »Ein gutes neues Jahr«, sagte sie, als sie das Zimmer verließ. »In zwei Stunden komme ich wieder.«
    Als sie gegangen war, zog ich meinen Stuhl an Hectors Bett und beugte mich vor, um ihn auf die Stirn zu küssen. Seine Haut war heiß und feucht. Das war nichts Neues; das Fieber kam und ging schon seit Monaten. Sein Körper fiel in sich selbst zusammen. Wenn ich die Hand auf sein Brustbein gelegt und gedrückt hätte, wäre er zerfallen wie Asche. Sein gelbes Gesicht ruhte auf einem weißen Kopfkissen, die Lippen trocken und blau, halb geöffnet. Unregelmäßiger Bartwuchs bedeckte seine Wangen. Seine Unterlippe wölbte sich vor wie die eines Ballspielers mit Kautabak im Mund; ich klappte die Lippe nach unten und sah die Knoten des Kaposi-Sarkoms aus seinem Zahnfleisch ragen.
    Ich stand müde auf und ging ins Bad, drehte das warme Wasser auf und wartete, bis es aus dem Hahn dampfte. Ich machte ein Handtuch nass, schäumte es mit flüssiger Seife ein, ging zurück zu Hector und betupfte sein Gesicht behutsam mit dem Tuch. Ich holte mein Rasiermesser mit dem Schildpattgriff aus der Tasche und klappte die Klinge auf. Während auf dem Bildschirm das Feuerwerk weiterging, entfernte ich die rauen Stoppeln in Hectors Gesicht. Als ich fertig war, als ich die Seifenreste abgewaschen und sein Gesicht mit einem sauberen Handtuch trocken getupft hatte, beugte ich mich mit dem offenen Rasiermesser in der Hand über ihn. Ich dachte, wie leicht es wäre, ihm die Kehle durchzuschneiden, wie gut es für ihn wäre, geradezu ein Akt der Barmherzigkeit. Aber ich hätte es niemals tun können; ich hätte niemals die Hand gegen Hector erheben können, nicht einmal aus Barmherzigkeit.

    In dieser Nacht verstand ich zum ersten Mal die alte
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