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Alles auf Anfang

Alles auf Anfang

Titel: Alles auf Anfang
Autoren: Benioff David
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immerzu die gleichen drei Takte von Prokofjew summte. Hinter ihm saß eine Reihe älterer Frauen, die Einkaufstaschen umklammert hielten. Sie ließen ihn nicht eine Sekunde aus den Augen. Ich stellte mir unwillkürlich vor, sie könnten wie auf Kommando von ihren Plätzen aufspringen und ihn mit zahnlosen Mündern verschlingen.
    In der großen Halle der Grand Central, unter der mit Sternbildern bemalten Decke, schlug Hector sogar Rad - jawohl, Rad! -, und das gleich dreimal hintereinander, und lachte, als er sah, dass ich mir auf die Lippen biss. Er winkte einem finster dreinblickenden Polizisten zu, der neben dem Informationspavillon stand und seinen Schlagstock herumwirbeln ließ.
    »Komm schon«, sagte ich zu Hector und stieß ihn weiter. »Der Zug fährt in zwei Minuten.«
    »Das Problem mit Spandex ist«, sagte Hector und zupfte zwischen seinen Beinen an dem Material herum, »es scheuert.«
    Wir bestiegen unseren Zug und suchten uns einen leeren Wagen. Hector seufzte, frustriert, nun vierzig Minuten lang eingesperrt zu sein. Kurz vor Abfahrt des Zuges kam eine Gruppe älterer Schüler, die die Blazer ihrer Sportmannschaft trugen, johlend in unseren Wagen gestürmt. Ihr Anblick, ihre rasierten Köpfe und Siegelringe, ließ bei mir die Alarmglocken schrillen, doch Hector schien die Jungs nicht einmal zu bemerken. Er lehnte den Kopf an meine Schulter und machte ein Nickerchen.
    Die Jungs dagegen bemerkten uns sehr wohl. Es begann mit Feixen und gewisperten dummen Sprüchen. Einer von
ihnen ahmte Hector nach und lehnte den Kopf an die Schulter seines Freundes; der Freund stieß ihn gespielt entrüstet weg. Der Schaffner ging durch den Wagen, und ich kaufte unsere Fahrkarten. Ich sah ihm nach, bis sein blauer Rücken durch die Schiebetüren verschwand.
    Sie fingen an, Sachen auf uns zu werfen. Als Erstes segelte ein Papierflieger über unsere Köpfe. Dann kamen zusammengeknüllte Zeitungsseiten. Ich stieß Hector mit der Schulter an; ich wollte den Platz wechseln, in einen Wagen mit anderen Menschen gehen. Hector schlug genau in dem Moment die Augen auf, als eine zerdrückte Coladose auf meinen Schoß flog. Er schnappte die Dose, setzte sich auf und schleuderte sie auf den Größten der Bande, einen blauäugigen bulligen Schlägertyp. Die Dose traf den Jungen an der Nase und prallte ab. Bevor der Junge überlegen konnte, was er tun sollte, stand Hector auf und beugte sich vor, die schweren Unterarme über den Sitz vor ihm gehängt.
    »Wann hat dir das letzte Mal ein Mann in einem Bodysuit die Zähne eingeschlagen?«
    Der Junge wusste keine Antwort. Beim nächsten Halt stieg eine große Familie in unseren Wagen, beendete die Stille mit dem willkommenen Geschrei kleiner Kinder, und wir erreichten Scarsdale ohne weitere Zwischenfälle.
    »Zurück nehmen wir ein Taxi«, verkündete ich, als wir den Bahnhof verließen. »Ich bezahle es.«
    »Das musst du auch«, sagte er. »Glaubst du vielleicht, ich habe hier irgendwo Platz für einen Geldbeutel?«

     
     
     
    4 Als wir eines Abends einen Spaziergang machten, durch Chinatown gingen, wo wir den Schwärmen hastender Menschen auswichen, auf die aufgehängten Enten deuteten, die am Spieß gebratenen Spanferkel, die Krebse, die aus ihren Glastanks linsten, die Scheren von blauen Gummibändern zusammengehalten, machte Hector den Mund auf, um etwas zu sagen, begann stattdessen aber zu husten, und hustete immer weiter; er stand mitten auf dem Bürgersteig, die Hände auf den Knien, während sein Körper von trockenen Hustenanfällen geschüttelt wurde. Eine volle Minute lang hielt ich seine Schultern fest, während die Passanten einen weiten Bogen um uns machten, ohne auch nur einen Moment das Tempo zu verlangsamen.
    »Ich muss aus dieser Stadt raus«, erklärte er mir, als er endlich wieder sprechen konnte, die Augen gerötet. »Ich schwöre bei Gott, ich bin gegen New Yorker allergisch.«
    Es war ein tapferer Scherz. Wir ließen unser Blut untersuchen, und wir bekamen den Befund mitgeteilt. Und so lernten wir eine neue Sprache. Wir lasen jeden Artikel über die neuen Therapien, den wir finden konnten. Ich rief Freunde an, mit denen ich seit Jahren nicht gesprochen hatte, kranke Freunde, die sich unauffällig aus dem hektischen Kreislauf von Partys, Tanzclubs und Premieren zurückgezogen hatten. Ich hatte diese Männer aus meinen Gedanken verbannt, und ich schämte mich, ich schämte mich, dass ich in ihren Stimmen auf Anzeichen von Genugtuung horchte, wenn ich ihnen die
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