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Alles auf Anfang

Alles auf Anfang

Titel: Alles auf Anfang
Autoren: Benioff David
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Morgen bestellte uns Dr. Kislyany zu sich. Hectors Wert betrug achtzehntausend, meiner fünfundzwanzigtausend. Als wir die Klinik verließen, in den kalten Wintersonnenschein hinaustraten, bat mich Hector, zu ihm zu ziehen.
    »Ich möchte, dass du da bist«, sagte er. »Ich kann mir bestimmt nie merken, was ich wann einnehmen muss. Außerdem bist du der bessere Koch.« Ein besserer Koch als Hector zu sein war kein großes Kompliment; das Einzige, was er aß, waren Proteinshakes und rohes Gemüse. Aber er wollte ja nicht, dass ich am Herd herumhantierte; er wollte, dass ich auf ihn aufpasste. Solange ich als Zeuge zugegen war, konnte Hector nicht verschwinden.

    Also zog ich bei ihm ein, tauschte Tulip und den Fleischerladen und Red Hook gegen Hector und seine Vierzimmerwohnung in TriBeCa ein. Es war das erste Mal, dass ich in Manhattan lebte. Ich hatte mir immer vorgestellt, wenn ich mich einmal hier niederlasse, dann bin ich arriviert, mit einer eigenen Ausstellung in einer Galerie in Soho und einer überschwänglichen Besprechung im Art Forum. Doch Hector war derjenige mit dem Sammelalbum voller Zeitschriftenrezensionen, mit Zeitungsfotos von ihm auf der Bühne, mit einem Bündel Fanpost von echten Fans (wenn auch, wie er mir gestand, hauptsächlich von seiner Mutter).
    Wir begannen den ersten von vielen Medikamentenzyklen. »Happy Hour«, pflegte Hector zu sagen, wenn er die bernsteinfarbenen Pillenfläschchen auf seinem Küchentisch in zwei getrennte Häufchen einteilte: Hector morgens; Alexander morgens. Hector abends; Alexander abends.
    In diesen ersten Tagen unseres Zusammenlebens betrachteten wir die Pillen als unsere kleinen Helden, frisch geschrubbte amerikanische Soldaten, die durch Paris marschieren, der jubelnden Menge zuwinken. Nucleosidanaloge, nicht nucleosidanaloge reverse Transkriptase-Hemmer, Proteasehemmer - wir sprachen die Namen ehrfürchtig aus, voller Bewunderung. Sie waren gekommen, um uns das Leben zu retten.
    Unsere innigen Gefühle für die Pillen währten nicht lange. Wir mussten unsere Tage um unsere Medikation herum planen, daran denken, dass Didanosin auf nüchternen Magen eingenommen werden muss, Saquinavir mit einer fettreichen Mahlzeit, Indinavir mit einer fettarmen Mahlzeit;
dass Ritonavir wie Säure schmeckt und mit Schokoladenmilch getrunken werden sollte; dass Delavirdin mit 230 Milliliter Wasser verrührt und schnell hinuntergeschluckt werden muss, so wie ein Verbindungsbruder sein Bier kippt. Ich lernte, dass Amivudin Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Müdigkeit verursacht; dass Nevirapin Erbrechen, Durchfall, Fieber und heftige rote Hautausschläge auslöst - die gleichen Symptome wie Nelfinavir, außer wenn Nelfinavir zusammen mit Saquinavir eingenommen wird, denn dann hat man das Gefühl, als würden einem Messer den Brustkorb zerschneiden. Zalcitabin fraß ein Loch in meine Speiseröhrenwand. »Kleineres Geschwür«, teilte mir Dr. Kislyany mit, während er sich ein Sonogramm meines Halses besah. »Schmerzhaft, nicht gefährlich.« Idovudin hemmt die Bildung von neuem Knochenmark, was mir gar nichts sagte, bis ich mir eine perniziöse Anämie zuzog und achtzehn Kilo abnahm, meine Haut ihre Farbe verlor und ich selbst so schwach wurde, dass ich mich zwei Wochen lang nur mithilfe eines Stocks fortbewegen konnte. Wenn ich zu schnell aufstand, flirrten jedes Mal leuchtende Fliegen vor meinen Augen herum. Schmerzhaft und gefährlich, aber ich überstand es.
    Das erste Malheur passierte neun Monate nach Beginn der Therapie, als ich an einer Straßenecke stand und auf Grün wartete. Ich spürte ein Zittern im Darm und dann die scheußliche Nässe, die meine Schenkel hinunterlief. Im Geiste sah ich mich blitzartig als Vierjährigen, wie ich heulend auf dem überwucherten Rasen stehe und meine Mutter mich anbrüllt. Die Ampel sprang auf Grün, und ich überquerte die Straße.
    Scham ist, wenn schwarze Scheiße in deine Hosenbeine sickert, in deine Socken, während du die Hintertreppe zur
Wohnung deines Lovers hinaufsteigst. Scham ist, wenn du deine beschmutzten Sachen in einen Müllsack stopfst und sie in den Schacht der Verbrennungsanlage wirfst. Scham ist, wenn du unter der Dusche stehst, das Wasser so heiß, wie du es ertragen kannst, deine Haut mit Bimsstein abschrubbst, die Haut wund scheuerst, bis sich blutige Sterne auf den Beinen bilden, und noch fester, dir die Haut abziehen möchtest, um diese Hülle loszuwerden, um aus diesem kaputten Körper
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