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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen
Autoren: Cees Nooteboom
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Mischung aus Marxismus und Katholizismus als verschmutzten Nimbus um sich, sah er noch vor sich, einen dumpfen Fünfziger in einem dumpfen kleinen Zimmer der großen zugeschlammten Traumfabrik, in deren Kantine sich die Sonnenbankvisagen der nationalen Berühmtheiten mit ihren Kehlkopfkrebsstimmen tummelten. Ständige Abwesenheit hatte Arthur Daane davor bewahrt, ihre Namen zu behalten, doch ein Blick genügte, und man wußte, um wen es sich handelte.
    »Ich weiß, daß du zwei Pole in deinem Wesen hast«, sagte der Redakteur (um ein Haar hätte er »in deiner Seele« gesagt) – »Reflexion und Aktion; aber mit Reflexion schafft man nun mal keine Einschaltquoten.« Der gebrochene Idealismus des Marxisten und die versteckte Korruption des Katholiken, der sich verkauft hat, um ungefährdet auf eine Rente zuzulavieren – es blieb eine unwiderstehliche Kombination.
    »Was du über Guatemala gemacht hast, diese Sache mit den verschwundenen Gewerkschaftsführern, das war Klasse. Und Rio de Janeiro, die von der Polizei erschossenen Kinder, wofür du in Ottawa diesen Preis bekommen hast, so was suchen wir. Teuer war es schon, aber ich glaube doch, daß wir plus/minus null rausgekommen sind. Deutschland hat es für die dritten Programme gekauft, und Schweden … Benjamin! Den hab ich früher in- und auswendig gekannt …«
    Arthur Daane sah die Leichen von ungefähr acht Jungen und Mädchen, ausgestreckt auf hohen Steintischen, groteske Füße, die unter schmutziggrauen Laken hervorschauten, Schilder um die Knöchel, die Namen auf dem ebenso vergänglichen Papier austauschbar, Wortfragmente, die sich auf diesem Tisch bereits aufzulösen begannen, zusammen mit den kaputten Körpern, die sie hatten benennen müssen.
    »Tragisches Schicksal, Benjamin«, sagte der Redakteur. »Und trotzdem, hätte er dort in den Pyrenäen nach dem ersten gescheiterten Versuch nicht gleich aufgegeben, dann hätte es natürlich geklappt. Dann hätte er es geschafft. Denn obwohl die Spanier faschistische Schweine waren, ihre Juden haben sie trotzdem nicht zu Hitler geschickt. Ich weiß nicht, aber ich hab immer Probleme mit Selbstmord. Beim zweitenmal wäre er natürlich reingekommen, wie die anderen auch. Stell dir vor, Benjamin in Amerika, zusammen mit Adorno und Horkheimer.«
    »Ja, stell dir vor«, sagte Arthur.
    »Aber wer weiß, vielleicht hätten sie Krach bekommen«, sinnierte der Redakteur weiter, »du weißt doch, wie das bei Exilanten läuft.«
    Er erhob sich. Manche Menschen, dachte Arthur, sehen, selbst wenn sie korrekt gekleidet sind, so aus, als lägen sie in einem schmuddeligen Schlafanzug im Bett und stünden nie wieder auf. Er schaute auf den schwammigen Körper vor dem Fenster, das Ausblick auf einen anderen Flügel des Komplexes bot. Hier wurde die Pampe fabriziert, die sich als klebriger Brei über das Königreich ergoß, durch Kanäle, in denen sich der nationale Abklatsch mit dem Mist des großen transatlantischen Vorbilds mischte. Jeder, den er kannte, sagte, er oder sie sehe nie fern, doch aus der Unterhaltung in Kneipen oder bei Freunden konnte man ganz andere Schlüsse ziehen.
    Er stand auf, um zu gehen. Der Redakteur öffnete die Tür zu einem Saal voll schweigender Gestalten an Computern. Lieber tot, er wußte später noch, daß er das gedacht hatte. Doch das war unfair. Was wußte er von diesen Menschen?
    »Was machen die da?« fragte er.
    »Hintergrund für die Nachrichtensendungen und Panels. Das bekommen unsere Genies dann in die Hand gedrückt, wenn sie über etwas sprechen müssen, wovon sie keine Ahnung haben, und das ist so ungefähr alles. Fakten, historische Analysen, solche Dinge. Wir bereiten das für sie auf und dicken es ein.«
    »Zu mundgerechten Happen?«
    »Noch nicht mal. Von dem, was die hier rantragen, wird vielleicht ein Zehntel verwendet. Mehr verkraften die Leute nicht. Die Welt wird dann zwar verdammt klein, aber für die meisten Menschen ist sie immer noch zu groß. Am liebsten wäre es ihnen, glaube ich, wenn sie gar nicht mehr existierte. Jedenfalls wollen sie nicht daran erinnert werden.«
    »Und meine Gewerkschaftsführer?«
    Auch die sah er jetzt vor sich. Fotos auf dem Tisch bei einer Menschenrechtsorganisation in New York: harte, verschlossene indianische Gesichter. Verschwunden, irgendwo zu Tode gefoltert, schon wieder vergessen. »Soll ich ehrlich sein? Du bist unsere Alibinummer. Und die toten Stunden müssen auch gefüllt werden. Die Leute haben die Nase gestrichen voll von Bosnien,
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