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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen
Autoren: Cees Nooteboom
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sie galt oder nicht, eine Mischung aus Protestantismus und Anarchie, die so etwas wie ein eigensinniges Chaos ergab. Bei seinen letzten Besuchen hatte er gemerkt, daß Autos, und manchmal auch Straßenbahnen, mittlerweile schon bei Rot losfuhren.
    »Du wirst schon ein richtiger Deutscher. Ordnung muß sein. Hör dir nur mal an, wie sie in der U-Bahn schreien. Einsteigen bitte! ZURÜCKBLEIBEN!! Na, wir haben ja gesehen, wozu dieser ganze Gehorsam geführt hat.« Niederländer ließen sich nicht gern etwas sagen. Deutsche straften gern. Die Kette der Vorurteile hatte offenbar nie ein Ende.
    »Ich finde den Verkehr in Amsterdam lebensgefährlich.«
    »Ach, hör doch auf. Sieh dir doch mal an, wie die Deutschen über die Autobahn jagen. Ein einziger großer Wutanfall. Aggression pur.«
    Die Ampel sprang auf Grün. Die sechs verschneiten Gestalten gegenüber setzten sich gleichzeitig in Bewegung. Man durfte nicht verallgemeinern. Und trotzdem besaßen Völker bestimmte Charaktereigenschaften. Woher kamen die?
    »Aus der Geschichte«, hatte Erna gesagt.
    Was ihn an der Idee der Geschichte faszinierte, war die chemische Verbindung aus Schicksal, Zufall und Absicht. Aus dieser Kombination ergaben sich Geschicke, die wiederum andere Geschicke nach sich zogen, blind nach Ansicht einiger, unabwendbar nach Ansicht anderer, oder, wie noch wieder andere meinten, mit einer geheimen, von uns noch nicht erkannten Absicht, aber damit bewegte man sich dann schon in mystischen Sphären.
    Einen Moment lang erwog er, in den »Zwiebelfisch« zu gehen und Zeitung zu lesen, und sei es nur, um sich aufzuwärmen. Er kannte dort niemanden, und zugleich kannte er alle vom Sehen. Es waren Menschen wie er, Menschen, die Zeit hatten. Aber sie sahen nicht aus wie Reklamegestalten. Der »Zwiebelfisch« hatte ein großes Fenster über die gesamte Front. Hinter diesem Fenster standen ein paar Tische aufgereiht, dahinter kam gleich die Bar, aber daran saß niemand, wie man normal an einer Bar sitzt. Der Sog der Außenwelt war zu groß. Was man von außen sah, war eine Reihe starrender Gestalten, die aussahen, als hinge ein großer, langsamer Gedanke über ihnen, ein schweigendes Grübeln von einer solchen Schwere, daß es sich nur durch das äußerst langsame Trinken riesiger Biergläser ertragen ließ.
    Sein Gesicht war mittlerweile eiskalt, aber es war einer jener Tage, an denen er das wollte, selbstauferlegte Strafe, vermischt mit Genuß. Spaziergänge bei strömendem Regen auf der Insel Schiermonnikoog, Kletterpartien zu einem verlassenen Pyrenäendorf bei großer Hitze. Die Erschöpfung, die damit einherging, sah man manchmal auch auf den Gesichtern von Joggern, Formen öffentlichen Leidens, die indezent waren, rennende Christusse auf dem Wege nach Golgatha. Laufen war nichts für ihn, es störte den Rhythmus dessen, was er Denken nannte. Mit richtigem Denken hatte das wahrscheinlich kaum etwas zu tun, aber so hatte er es nun mal früher genannt, als er fünfzehn, sechzehn war. Abgeschiedenheit war dafür nötig. Lächerlich natürlich, aber er hatte nie damit aufgehört. Früher war es an bestimmte Orte gebunden, jetzt war es überall möglich. Die Voraussetzung war, daß er nicht zu reden brauchte. Roelfje hatte das verstanden. Stundenlang konnten sie gehen, ohne etwas zu sagen. Ohne daß es je ausgesprochen worden wäre, wußte er, daß sie wußte, daß alle Erfolge in seiner Arbeit auf diese Weise zustande kamen. Wie dieser Mechanismus funktionierte, konnte er nicht sagen. Später schien es oft, als erinnere er sich an die Dinge, die er mit einem Film ausdrücken wollte, nicht nur an die Idee, sondern auch wie sie auszuführen war. Erinnern, das war das richtige Wort. Kameraeinstellung, Licht, Reihenfolge, ein seltsames Déjà-vu schien ihn bei allem, was er tat, zu begleiten. Auch die wenigen Kurzspielfilme, die er mit Studenten der Filmakademie gedreht hatte, waren eigentlich so zustande gekommen, zur Verzweiflung derer, die mit ihm zusammenarbeiten mußten. Er fing mit nichts an, schlug einen Salto mortale – aber dann so einen, bei dem ein Körper im hohen Raum des Zirkuszelts minutenlang in der Luft zu stehen scheint – und landete dann wieder auf den Füßen. Von dem ursprünglichen Treatment, das er eingereicht hatte, um Geld loszueisen oder den Auftrag zu ergattern, war dann meist nicht mehr viel übrig, doch das wurde ihm verziehen, wenn das Resultat gut war. Und trotzdem, was war das nun eigentlich, dieses Denken? Es hatte etwas mit
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