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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen
Autoren: Cees Nooteboom
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Schwenk die verschneite Knesebeckstraße auf, die grauen, so mächtigen Berliner Häuser, die wenigen Passanten, die gebeugt in die Flocken hineinliefen. Und er war einer von ihnen. Darum ging es, die absolute Zufälligkeit dieses Augenblicks. Der eine, der da geht, ganz in der Nähe der Buchhandlung Schoeller, an der Fotogalerie vorbei, das bist du. Warum war das immer normal und manchmal, plötzlich, eine bestürzende Sekunde lang, nicht auszuhalten? Daran mußte man doch gewöhnt sein? Außer, man war eine Art ewig pubertierender Teenager.
    »Damit hat es nichts zu tun. Manche Menschen stellen sich nie eine Frage. Aber aus dieser Bestürzung heraus entsteht alles.«
    »Zum Beispiel was?«
    »Kunst, Religion, Philosophie. Weißt du, manchmal lese ich auch was.«
    Erna hatte ein paar Jahre Philosophie studiert und war dann zu Niederländisch übergewechselt.
    Am Savignyplatz schlug ihm eine plötzliche Schneebö entgegen, er hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Es wurde Ernst. Kontinentalklima. Das war einer der Gründe, weshalb er Berlin liebte, er hatte stets das Gefühl, sich auf einer riesigen Ebene zu befinden, die sich bis weit nach Rußland hinzog. Berlin, Warschau, Moskau waren nur kurze Unterbrechungen.
    Er hatte keine Handschuhe an, seine Finger waren eiskalt. Darüber hatte er beim selben Gespräch auch noch ein Referat gehalten, über Finger.
    »Hier, was ist das?«
    »Das sind Finger, Arthur.«
    »Ja, aber es sind auch Tentakel, schau doch nur.«
    Er nahm einen Bleistift, drehte ihn um die Finger.
    »Schlau, nicht? Die Menschen staunen über Roboter, aber nie über sich selbst. Wenn ein Roboter so etwas macht, dann finden sie das gruselig, aber nicht, wenn sie es selbst machen. Roboter aus Fleisch, ganz schön gruselig. Noch mal, tolles Wort. Können alles, sogar sich fortpflanzen. Und Augen! Kamera und Bildschirm in einem. Aufnehmen und senden mit ein und demselben Gerät. Ich weiß nicht mal, wie man das ausdrücken soll. Wir haben Computer, oder wir sind Computer. Elektronische Befehle, chemische Reaktionen, wie du willst.«
    »Computer haben keine chemischen Reaktionen.«
    »Kommt noch. Weißt du, was ich am verrücktesten finde?«
    »Nein.«
    »Daß die Menschen im Mittelalter, die nichts von Elektronik oder Neurologie wußten, oder, nein, noch extremer, die Neandertaler, Menschen, die wir für primitiv halten, daß die genauso hochentwickelte Maschinen waren. Die wußten nicht mal, daß sie beim Sprechen das Audiosystem benutzten, das sie selbst waren, komplett mit Lautsprechern, Boxen …«
    »Oh Arthur, hör auf.«
    »Hab ich doch gesagt, ein Teenager. Staunt und staunt.«
    »Aber das hast du nicht gemeint.«
    »Nein.«
    Was ich gemeint habe, ist die Angst, die wie ein Blitz einschlägt, wollte er sagen, eine heilige Scheu vor dem unnahbaren Fremden von allem, was andere offenbar nie als fremd empfanden und woran man sich in seinem Alter gewöhnt haben sollte.
    Er ging an der Weinstube seines Freundes Philippe vorbei, der noch nicht mal wußte, daß er wieder in Berlin war. Er sagte nie jemandem Bescheid. Er schneite einfach wieder irgendwo herein. An der Kantstraße stand die Ampel auf Rot. Er schaute nach links und nach rechts, sah, daß keine Autos kamen, wollte die Straße überqueren und blieb doch stehen, spürte, wie sein Körper diese beiden widersprüchlichen Befehle verarbeitete, ein Art merkwürdiger Wellenschlag, der ihn auf dem falschen Bein hatte landen lassen, ein Fuß auf dem Bürgersteig, der andere auf der Straße. Durch den Schnee hindurch sah er zu der schweigenden Gruppe der Wartenden auf der anderen Seite. Wenn man je den Unterschied zwischen Deutschen und Niederländern feststellen wollte, so war das in solchen Momenten möglich. In Amsterdam war man verrückt, wenn man als Fußgänger bei Rot nicht losging, hier war man verrückt, wenn man es tat, was man auch deutlich zu hören bekam.
    »Der will wohl Selbstmord begehen.«
    Er hatte Victor, einen Bildhauer, der wie er aus Amsterdam stammte, jetzt aber in Berlin lebte, gefragt, was er tat, wenn wirklich nichts kam.
    »Dann geh ich rüber, außer, es sind Kinder in der Nähe. Mit gutem Beispiel vorangehen, du weißt schon.«
    Er selbst hatte beschlossen, diese eigenartigen leeren Augenblicke für das zu nutzen, was er »Instantmeditation« nannte. In Amsterdam fuhren alle Radfahrer aus Prinzip ohne Licht, bei Rot und auch gegen die Verkehrsrichtung. Niederländer wollten immer selbst entscheiden, ob eine Regel auch für
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