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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen
Autoren: Cees Nooteboom
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Leere zu tun, viel mehr ließ sich dazu nicht sagen. Der Tag mußte leer sein, und er selbst eigentlich auch. Beim Gehen hatte er das Gefühl, daß diese Leere durch ihn hindurchströmte, daß er durchsichtig geworden war oder auf eigenartige Weise nicht da war, nicht zu der Welt der anderen gehörte, ebensogut nicht hätte dasein können. Die Gedanken, wenngleich dieses Wort schon zu groß war für das vage, diffuse Sinnieren, bei dem unbestimmte Bilder und Satzfetzen aufeinanderfolgten, konnte er hinterher nie in irgendeiner konkreten Form reproduzieren; am ehesten ähnelte das Ganze noch einem surrealistischen Gemälde, das er einmal gesehen hatte, dessen Titel er aber nicht mehr wußte. Eine aus Scherben bestehende Frau stieg eine endlos hohe Treppe hinauf. Sie war noch nicht weit gekommen, und die Treppe verschwand irgendwo in den Wolken. Ihr Körper war nicht vollständig, und trotzdem war sie als Frau erkennbar, auch wenn die Scherben, aus denen sie bestand, nirgends aneinanderhafteten. Wenn man richtig hinschaute, war es im Grunde ziemlich beängstigend. Nebelschleier flossen durch diesen Körper an der Stelle, wo ihre Augen, die Brüste, der Schoß hätten sein müssen, amorphe, noch nicht erkennbare Software drang in sie ein, die sich irgendwann, wenn alles gut lief, in etwas umsetzen ließ, wovon er jetzt noch keine Vorstellung hatte.
    An der Ecke Goethestraße nahm der Wind ihm fast den Atem. Mommsen, Kant, Goethe, hier befand man sich stets in guter Gesellschaft. Er ging an dem türkischen Italiener vorbei, wo Victor immer Kaffee trank, sah ihn dort aber nicht. Victor hatte sich, wie er es selbst nannte, tief in die deutsche Seele hineinsinken lassen, hatte Gespräche mit Opfern und Tätern geführt und darüber geschrieben, ohne je einen Namen zu nennen, kleine Skizzen, die den Leser gerade durch das Fehlen jeglichen zur Schau getragenen Pathos tief berührten. Arthur Daane mochte Menschen, die, wie er es ausdrückte, »mehr als nur eine Person waren«, und ganz besonders, wenn diese verschiedenen Personen gegensätzlich zu sein schienen. In Victor wohnte eine ganze Gesellschaft unter einer Fassade vorgetäuschter Nonchalance. Ein Pianist, ein Bergsteiger, ein kühler Beobachter des menschlichen Tuns, ein wagnerianischer Dichter mit Blut und Feldherren, ein Bildhauer und ein Erschaffer äußerst rhetorischer Zeichnungen, die zuweilen nur aus wenigen Strichen bestanden und deren Titel, auch jetzt noch, offensichtlich etwas über den Krieg sagen wollten, der schon so lange verschwunden war. Berlin und der Krieg, das war Victors Jagdrevier geworden. Wenn er darüber überhaupt etwas sagte, dann mit einem halben Scherz, der darauf hinauslief, daß es mit seiner Kindheit zusammenhing, da »wenn man selbst noch klein ist, Soldaten sehr groß sind«, und Soldaten hatte er als Kind in den besetzten Niederlanden sehr viele gesehen, weil das Haus seiner Eltern in der Nähe einer deutschen Kaserne lag. Mit seiner Kleidung erinnerte er ein wenig an einen Revuekünstler aus der Vorkriegszeit, karierte Sakkos, Seidenschal, der dünne, gezeichnete Schnurrbart eines David Niven, der wie zwei hochgezogene Augenbrauen aussah, als wolle er auch mit seinem Äußeren ausdrücken, daß es nie Krieg hätte geben dürfen und daß die dreißiger Jahre für immer hätten andauern müssen.
    »Schau mal, siehst du die Einschußlöcher da …« So begann oft ein Berlin-Spaziergang mit Victor. In solchen Augenblicken schien es, als sei er selbst der Bürgersteig geworden und erinnere sich an etwas, einen politischen Mord, eine Razzia, eine Bücherverbrennung, die Stelle am Landwehrkanal, an der Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen worden war, den Punkt, bis zu dem die Russen 1945 vorgedrungen waren. Er las die Stadt wie ein Buch, eine Geschichte über unsichtbare, in der Historie verschwundene Gebäude, Folterkammern der Gestapo, die Stelle, an der Hitlers Flugzeug noch hatte landen können, alles erzählt in einem kontinuierlichen, fast skandierten Rezitativ. Irgendwann einmal hatte Arthur mit Victor eine Sendung über Walter Benjamin machen wollen, die er nach einem Benjamin-Zitat über den Flaneur »Die Sohlen der Erinnerung« hatte nennen wollen, wobei Victor dann die Rolle eines Berliner Flaneurs hätte übernehmen müssen, denn wenn irgend jemand auf den Sohlen der Erinnerung ging, dann er. Aber das niederländische Fernsehen wollte keine Sendung über Walter Benjamin. Den Redakteur, ein Akademiker aus Tilburg mit der üblichen
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