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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen
Autoren: Cees Nooteboom
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darüber sagte man besser nichts. Tote waren aus der Mode, das aber wußten diese Frauen in Porto noch nicht. Wenn er einschliefe (»du mußt dich ausruhen«), dann zögen diese Nebel langsam in sein Zimmer. In der Ferne hörte er den Verkehr auf der Plaza Manuel Becerra, die Geräusche der Großstadt, Hupen, eine Sirene, einen Lautsprecher, der etwas anpries, doch er würde nie wissen, was.
    *
    Ungefähr sechs Wochen später hätte man von einem nicht existierenden Beobachtungsposten irgendwo über der Erde sehen können, wie ein alter Volvo sich bei Atocha in den Verkehrsstrom Richtung Norden einfädelte. Der Fahrer hatte kurzes, borstiges Haar, neben ihm lag eine Kamera, ein Buch über die Geschichte Asturiens, ein Führer von Santiago, eine Karte von Spanien mit einem großen Kreuz bei Aranda de Duero, wo er haltmachen würde. (»Vorläufig nur kurze Etappen.«) Gleich außerhalb von Aranda gab es einen kleinen Gasthof an einem Fluß, wo er übernachten wollte. Vor seiner Abreise hatte er seinen Freund gefragt, ob die Frau, die ihn im Krankenhaus besucht hatte, wirklich kein Wort gesagt habe. Daraufhin hatte sein Freund den Kopf abgewandt und geantwortet: »Ich hätte es dir lieber nicht erzählt, aber sie sagte, sie müsse für ihre Arbeit nach Santiago.«
    »Aber sie hat dir keine Adresse gegeben?«
    »Nein. Und weiter hat sie nichts gesagt.«
    Es wurde Abend, kurz vor der Dunkelheit. Der Mann kam aus dem Gasthof und ging bis in die Nähe des Flusses. Dort begann er zu filmen, was, war nicht klar, es sei denn, die kleinen, sich bewegenden Flächen im Wasser, die von den letzten Sonnenstrahlen beschienen wurden, eine sich stets wiederholende, leuchtende Bewegung, die sich in der näher rückenden Dunkelheit langsam auflöste. Danach ging er wieder ins Haus. In der Nacht war er einmal wach geworden von einem hohen, verzweifelten Heulen, einem Geräusch, das zusammen mit dem heiseren, stets wiederholten Gegengeräusch, das dazu gehört, so unverwechselbar traurig ist, daß die niederländische Sprache dafür ein eigenes Wort erfunden hat, so daß der Mann in dem Gasthof, der das hörte, dachte, er würde dem Esel gern um den Hals fallen, um ihn zu trösten.
    Nach dem Frühstück hatte er den Fluß an derselben Stelle noch einmal gefilmt und war dann auf der N 122 in westlicher Richtung gefahren, bei der N 1 jedoch in Richtung Norden abgebogen. Nur das unmögliche Auge hoch da oben hätte sehen können, daß das Auto an der Kreuzung kurz gezögert hatte, sich dann aber doch vom Westen abgewandt hatte und bis dahin weitergefahren war, wo die ersten baskischen Namen auf den Verkehrsschildern auftauchen und hinter den Ausläufern der Pyrenäen der hohe Himmel des Nordens sichtbar wird.
    *
    * *

Und wir? Ach wir …

    Santa Monica, Port Willunga, San Luis,
    April 1996 - Juli 1998.

Mit der gefräßigen Aneignung völlig belangloser Einzelheiten und der Fähigkeit zur Aufnahme ganzer Regale voller zerfallender Schriftstücke – samt Untersuchungsprotokollen, die vielleicht niemand (einschließlich des Schreibers) je gelesen hat – ist die Geschichtsschreibung auf diesem Weg vorangeschritten, auch wenn sie sich im allgemeinen hinsichtlich der eigenen Gründe geirrt hat: Scharen von Forschern haben gemeint, sie kämen beim Durchforsten von Papierbergen der Gewißheit näher, oder sie haben beim Ausbreiten ihrer Zahlenwerke und Tabellen sogar geglaubt, mit der Naturwissenschaft gleichzuziehen. Doch je mehr sie die Rohdaten einkreisten, desto deutlicher ließen sie die stumme Rätselhaftigkeit jeder geschichtlichen Fährte zum Vorschein kommen. Hinter diesen Namen, diesen beglaubigten Dokumenten, diesen juristischen Aktenbündeln tat sich die gewaltige Aphasie des sich in sich selbst verschließenden, mit einem Früher und Später nicht in Berührung kommenden Lebens auf.

    Roberto Calasso, Der Untergang von Kasch
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