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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen
Autoren: Cees Nooteboom
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Ich habe sie gehört, aber das sage ich nicht. Ich sage nichts. Rauschen. Schleier. Ich bin geflogen. Es muß Nacht sein. Wieder diese Frau, nein, eine andere. Ein Gesicht, das sich über meines beugt, ich spüre ihren Atem. Eine Hand an meinem Puls. Flüstern. Er liegt ganz still. Unendliche Müdigkeit.
    »Er will noch nicht.«
    »Das ist normal.«
    Er hört es deutlich, es stimmt. Er will zurück in seine Erinnerung, das Licht, in dem er verschwunden war, in dem er am liebsten geblieben wäre. Nicht diese Schmerzen.
    »Arturo?«
    Das ist Daniels Stimme.
    »Arturo?«
    Jetzt kommt die Welt zu ihm.
    »Sie können ruhig nach Hause gehen. Das kann noch sehr lange dauern.«
    »Nein, nein.«
    Türen, die sich öffnen. Andere Stimmen. Licht, Dunkelheit, Licht. Als ob es ganz langsam Morgen wird. Später erzählt man ihm, daß er fast zwei Wochen im Koma gelegen hat. »Sie wollten nicht zurückkommen.«
    »Wo ist meine Kamera?«
    »Die hätte Sie fast das Leben gekostet.«
    »Bist du endlich wach?«
    Jetzt hatte er Daniel zum erstenmal wirklich gesehen, so nah, genau über ihm, große Augen, Poren.
    »Du bist wieder da.«
    »Nicht bewegen.« Das war die Frauenstimme.
    Er spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten, wie sie ihm langsam über die Wangen liefen. Seine Hände waren verbunden. Er streckte sie Daniel entgegen, der sie zwischen seine nahm.
    »Wo ist meine Kamera?«
    Er spürte, wie Daniel seine Hände losließ, hörte Schritte außerhalb seines Blickfelds, sah dann, wie sein Freund ihm die Kamera entgegenhielt, die eine, richtige, Hand, die andere mit dem schwarzen Lederhandschuh, die plötzlich so groß war.
    »Jetzt muß er wieder Ruhe haben.«
    »Hast du Schmerzen?«
    War das derselbe Tag oder viel später? Zeit war nichts mehr, es gab nur Schlaf und Vergessen, und dann stets ein Dämmern und Wiedererwachen, bis der Tag kam, an dem sie endlich reden konnten.
    »Wie lang muß ich hier noch bleiben?«
    »Noch mindestens ein paar Wochen. Danach kannst du zu mir, sie sind einverstanden.«
    »Woher wußtest du es? Woher wußtest du, daß ich hier liege?«
    »Du hast in der Zeitung gestanden. Niederländischer Filmemacher überfallen. Ich wußte ja gar nicht, daß du so viele Dokumentarfilme gemacht hast.«
    »Früher.«
    »Sie dürfen ihn nicht zu sehr ermüden.«
    Später begann die Arbeit des Erinnerns. Das Splittern, das Bersten. Es wollte nicht zurückkehren, auch das nicht. Daniel erzählte ihm von Briefen, von Nachrichten aus Berlin, den Anrufen von Erna und von seiner Mutter, die nicht einmal gewußt hatte, daß er in Madrid war, der Zeichnung von Otto Heiland, Blumen vom NPS, von Arte.
    »Hättest du nicht gedacht, was? Und eine Wurst, auch aus Berlin, eine deutsche Wurst. Die war sehr lecker, du durftest sie ja doch nicht essen. Ich mußte allen sagen, daß sie nicht kommen durften.«
    Zögern. Dann die Frage.
    »Jemand von der Botschaft, ein mal. Aber da lagst du noch im Winterschlaf. Er hat eine Karte dagelassen.«
    Winterschlaf. Sueño invernal. Zwei Silben mehr im Spanischen als in seiner Sprache. Winter, Schnee, Berlin, das Schreien, das in Stille übergegangen war. So war es. Bären hielten Winterschlaf. Wie das wohl war? Wenn man aus dem Gefrierschrank des Todes zurückkehrte? Und Schildkröten, aber das waren ohnehin schon halb versteinerte Tiere. Kein Wunder, daß sie so alt werden konnten, wenn man die Hälfte seines Lebens nicht zu leben brauchte. Er ließ sich wieder in den Schlaf fallen.
    »Du willst noch nicht so richtig, was?«
    War das noch derselbe Tag? Auch eine Frau sei dagewesen. Hat Daniel das jetzt gesagt oder schon früher? Sie habe an seinem Bett gesessen, als er ins Zimmer gekommen sei, und sei weggegangen, ohne etwas zu sagen. Genickt habe sie, doch dann habe sie sich an ihm vorbeigeschoben, habe sich unsichtbar gemacht.
    »Manche Menschen sind so, sie bewegen sich lautlos. Wenn sie weg sind, dann ist es, als wären sie nie dagewesen.«
    Arthur deutete auf seine Wange. Daniel nickte. Das war der Vorteil von Freunden: Sie verstehen alles, ohne daß man etwas zu sagen braucht.
    Er durfte noch nicht lesen, nicht fernsehen.
    »Was ist eigentlich mit dem Mann passiert, den sie entführt haben?«
    »Miguel Blanco? Der ist tot, den haben sie ermordet. Hier. Du darfst nicht lesen, aber vielleicht darfst du dir Bilder ansehen.«
    Daniel hielt ihm eine Zeitung hin, in der er gelesen hatte. Er sah das Foto eines dunklen, schlafenden Mannes. Lange Wimpern, die Lippen wie die eines
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