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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen
Autoren: Cees Nooteboom
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hin?«
    »Vielleicht können wir einen Kaffee trinken im Retiro?«
    »Gut.« Und nach einer Stille, in der sie schweigend nebeneinander gingen: »Du warst bei meiner Großmutter, in De Rijp.«
    Das wußte sie also.
    »Du hattest Arno Tieck die Adresse gegeben.«
    »Das war damals.«
    So einfach war es also. Es gab ein Damals und ein Jetzt. Damals lag unerreichbar fern, man kam nicht mehr hin. Paß ungültig geworden. Zum zweitenmal in einer Stunde unterdrückte er die Neigung, auf der Stelle wegzulaufen. Aber dafür war es jetzt zu spät. Dies war die Frau, die an seiner Tür gekratzt hatte, die in einem blauen Gabardineregenmantel auf seiner Treppe gesessen hatte, die nachts mit ihm durch Berlin gelaufen war. Sie gingen durch den engen Fußgängertunnel, der unter der Alcalá hindurchführt, zum Park. Ein schwarzer Mann in einer schmutzigen Dschellaba schlug auf eine Batterie Bongos ein, als wolle er sie in den Boden rammen. Am anderen Ende des Tunnels plötzlich Stille, Bäume, Schatten. Es war noch nicht wirklich heiß. Die gefleckte Rinde der Platanen, Blätter, die sich im Sand abzeichneten, ein Gewebe. Er blickte auf das Profil neben sich. Alabaster, nein, etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Ein Gesicht, das man in der Dämmerung noch filmen konnte. Dann würde es noch immer Licht ausstrahlen.
    »Das war damals.« Nach diesen Worten blieb ihr Mund wie eine Klammer geschlossen; ginge es nach ihr, müßte er ihn aufbrechen. Aber er sagte nichts, auch er nicht. Die Wege trugen hier die Namen spanischsprachiger Republiken, Kuba, Uruguay, Bolivien, Honduras, sie gingen durch einen Kontinent. Am Wasser des großen Teichs entlang. Kartenleser, Männer, die dem Schicksal aus Tarotkarten vorsagten, was es zu tun habe. Scheidungen, Lieben, Krankheiten lagen ausgebreitet auf einem schmuddeligen Tuch, die Stimme des Sehers wob sein Gespinst um den Kopf der Frau vor ihm, die ihre bangen Augen starr auf seinen Mund gerichtet hielt. Er war also nicht der einzige, der etwas wissen wollte.
    »Ich hatte gedacht, ich sehe dich nach dem letzten Mal wieder.«
    »Während du in Japan warst, war ich schwanger.«
    Neben dem Tisch mit den Karten saß eine Wahrsagerin. Er sah, wie sie die Hand ihres Opfers in ihrer eigenen verwitterten, gegerbten Hand hielt und mit halb geöffnetem Mund in die andere, weißere Hand starrte, als habe sie so etwas noch nie gesehen, ein trunkenes Gespinst aus sich schneidenden und ausweichenden Furchen, Kerben, Rillen. Dann sagte er, ohne sie anzusehen: »Und das bist du jetzt nicht mehr.«
    Es war keine Frage, dafür brauchte man nicht in Hände oder Karten zu schauen. Ein Ball prallte gegen ihn, grün mit blau, eine Plastikweltkugel, die so schnell wie möglich von ihm wegrollte. Sie gingen weiter, ohne etwas zu sagen, das lange Rechteck des Teichs entlang. Ruderer, Pärchen, Rollstühle, Gesang, Händeklatschen. Am großen Denkmal setzten sie sich, zwei Touristen, klein zwischen den monströsen Standbildern. Jemand fotografierte. An der Neigung der Kamera konnte er sehen, daß sie auf dem Bild mit drauf sein würden, Kulissenteile, deren Schweigen man nicht sehen könnte.
    Jetzt habe ich noch einen Geist, dachte er, aber das war Blasphemie. Jemand, der keine Form bekommen hatte, war niemand, der hatte nicht genug Vergangenheit, um ein Geist werden zu dürfen. Zu dürfen oder zu können. Eine Möglichkeit war unsichtbar, dazu konnte sich nur die Phantasie etwas denken, aber das war nicht erlaubt. Gab es so etwas, jemand, der gleichzeitig niemand war?
    Sie saß sehr still und sah genau vor sich. Er wollte seine Hand auf ihren Arm legen, doch sie rutschte weiter weg.
    »Es war nichts«, sagte sie. »Ich hatte einen Entschluß gefaßt, und nicht nur für mich. Ich habe mir dieses Foto bei dir in Berlin sehr genau angeschaut. Das ist nicht mein Leben. Ich hätte dir nie ein Ersatzkind liefern können.«
    Thomas. Er spürte, wie Wut in ihm hochkam, ein Peitschenhieb von innen heraus.
    »Ich hatte dich um nichts gebeten. Und es gibt nichts zu ersetzen.«
    »Genau darum«, sagte sie.
    »Ich glaube nicht, daß Abtreibung Mord ist«, sagte er, »aber trotzdem hast du den Tod um dich.«
    »Den hatte ich schon.« Plötzlich wandte sie ihm das Gesicht zu, so daß die Narbe ganz nahe war, violett, wütend, ein auseinandergezogener Mund, der besser schelten und treffen konnte als der andere, ein Mund mit einer anderen Stimme dahinter, tiefer, verbissener, rauh, er hörte etwas von amerikanischen Videofilmen, die er
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