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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen
Autoren: Cees Nooteboom
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den kannten sie, einer, der etwas verloren hatte, wußte, was das Leben bedeutete; wie eine gemeißelte Wahrheit blieb dieser Satz in seinem Kopf hängen, während das Gespräch weiterging und er nicht mehr einbezogen wurde, andere Namen, andere Ereignisse, ihre Welt lag irgendwo anders.
    Er schaute auf die gezeichnete Karte, die an der Wand hing, zehn Jahre Zusammenarbeit mit der internationalen Solidarität, eine Frau im Badeanzug, die bis zur Taille im blauen Wasser stand und einem Schiff mit Hilfsgütern zuwinkte; ein Hai oder ein Delphin, das war auf dieser Zeichnung nicht richtig zu erkennen, trank Limonade aus einem Strohhalm, bösartig aussehende Contras lagen getarnt an den Ufern eines Flusses, umschnürt mit langen Patronengurten. Urwald, Sumpf, Dörfer, Palmen, Sandino vive! Jedes Detail auf dieser Karte hatte er gesehen, vor acht Jahren, vor fünf Jahren, sein Gedächtnis hatte es bewahrt und nicht bewahrt, vergessen und nicht vergessen. Ein richtiger Krieg, ein vergessener Krieg. Während dieser ganzen Zeit war die Karte irgendwo in seinem Gehirn gespeichert gewesen, doch er mußte sie wieder sehen, um es zu wissen. Wie viele andere Dinge, Gesichter, Aussprüche gab es wohl noch, die er kannte und doch nicht mehr kannte? Auf diese Weise verlor man noch zu Lebzeiten die Hälfte seines Lebens, eine Art Vorgriff auf das große Vergessen, das danach einsetzen würde. Himmel, er war betrunken, er mußte machen, daß er hier fortkam, morgen ging’s weiter. Dies war die große Unterbrechung gewesen, der Fehltritt, der an einer blinden Mauer geendet hatte, zum Totlachen.
    Er stand auf und wankte. Cuidado, sagten die Männer. Jetzt sprachen sie Kinderspanisch mit ihm, sie zeigten auf die Kamera, bedeuteten ihm durch Gesten: nein, aufpassen, gefährlich hier, aber es war keine Warnung, es war eine Vorhersage, eine Nachricht, die Zukunft von zehn Minuten später, als er bereits in der Nähe der Metrostation Latina war, bei der sicheren Unterwelt, und zurückgerufen wurde von einem Bild, dem Lockruf einer Traumerscheinung: ein Löwe auf einer Säule, der seine Pranke auf eine große Granitkugel gelegt hatte, Neugier, Begehrlichkeit wie immer, das Bild, das vielleicht ein Bild für den Morgen sein würde, den Morgen seiner Abreise, dieser Löwe hatte ihn zurückgelockt in den Bann der Prophezeiung, zwei Männer, kahle Schädel, die ihn sich zuschubsten, zu Boden warfen, an der Kamera zerrten, ihm ins Genick traten, als er nicht losließ, ihm mit einer Eisenstange auf den Rücken schlugen, auf die Hände. Und noch immer ließ er nicht los, sie brachen ihm die Hände oder so schien es, er rappelte sich auf, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, konnte nicht zurückschlagen, versuchte zu treten, Zeit zu schinden, schrie, aber es war wie im schlimmsten Alptraum, es kam kein richtiger Laut, auch bei ihm nicht, nur ein merkwürdiges hohes Krähen, erstickt durch einen eisernen Griff um seine Kehle, eine Metallklaue, die ihn zu der scharfen Steinkante des Denkmals zwang, später wußte er, daß er Buchstaben gesehen hatte, unglaublich langsam war es gegangen, eine atemlose, verlangsamte Stille, in der der Schlag in seinen Schädel eingebrochen war, ein Splittern, eine Bahn aus kreischendem Grus mit Nägeln und Haken, ein knirschendes und spaltendes Geräusch, und dann war die Stille eingetreten, die mit nichts zu vergleichen war, in die er aufgenommen wurde und in der er alles gesehen hatte, sich selbst am Fuße dieses Denkmals, den geflügelten Löwen, einen Mann in einer Blutlache, der eine Kamera mit den Armen umklammerte, und dann dieses Geräusch aus der Ferne, die Sirene, die ihn holen kam, die ihn aufheben, umarmen, umfassen würde, bis er genau in der Mitte dieses Geräuschs lag, bis er selbst die Sirene geworden war und davonflog und von nichts mehr aufgehalten werden konnte.
    *
    Unwilligkeit. Dieser allererste Gedanke. Licht, die Stimme einer Frau, etwas, das von fern kommt. Alles wieder dunkel machen. Aber etwas ruft und zieht. Nicht zuhören, verstecken. Kein Licht, ich will nicht. Stille, hören Sie mich? Rauschen. Spanische Stimmen. Ich will nichts hören, ich rolle mich zusammen. »Er hört uns.« Eine bekannte Stimme. Daniel? »Versuchen Sie es mal.« »Versteht er Spanisch?«
    Ich sage nichts. Ich bleibe, wo ich bin. In meiner Nase steckt etwas. Ich bin festgebunden. Überall Schmerzen. Jetzt wieder schlafen. Wo ich gewesen bin, dort werdet ihr nie hinkommen. Unendliche Menschenmengen, Straßen voll.
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