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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen
Autoren: Cees Nooteboom
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Umblättern von Pergamentseiten, diese Stille ist die Burg geworden, in die sie jeden Tag mit einer Begierde zurückkehrt, die alles andere verschlungen hat, die Geräusche in der Pension, das Dröhnen des Fernsehers, den Lärm der belebten Straße unten, die täglichen Fahrten mit der Metro, die Hitze des Sommers, die Zeitungen, die ihr neue Ereignisse in einer perversen Umkehrung hinschieben: Sie beschäftigt sich mit etwas, das für alle ungültig geworden ist, und ist damit für das verloren, was für alle anderen gültig ist, sie liest die Worte und hört die Gespräche und Berichte, liest aber nicht und hört nicht zu, es ist zu roh, zu viel, nicht abgelagert genug, nicht eingedickt, die Zeit hat es noch nicht gekocht, es quillt an allen Seiten heraus, eine einzige Zeitungsausgabe umfaßt mehr Wörter als das Buch, das sie schreiben und so gut wie niemand lesen wird.
    Eine Liebestat soll es werden, sie wird diese Frau aus dem erstickenden Vergessen retten, aus ihrem Grab von Dokumenten und Zeugnissen reißen, ihr Gesicht glüht regelrecht, und dieses Gesicht ist es, das der Mann an dem Tag, an dem wir uns nun befinden, auf dem Monitor oben sieht, noch bevor er den Pförtner irgend etwas hat fragen können. Sie sitzt mit der unversehrten Seite ihres Gesichts zu ihm gewandt da, der Augenblick ist kaum zu ertragen, der Apparat rahmt sie in einer fast perfekten Großaufnahme ein, er hätte gern eine Kamera gehabt, um sie heranzuzoomen. Er sieht, wie verloren sie für alles ist, sein erster Instinkt ist, sich umzudrehen und ohnmächtig wegzugehen, er sieht ihre Hände über die Dokumente wandern, eine hochgebogene Ecke glattstreichen, eine Notiz machen, er ist so fasziniert davon, daß er die ungeduldig wiederholte Frage des Pförtners kaum bemerkt. Nein, keine Rede davon, daß er in diesen Raum gehen darf, dazu hat er keine Genehmigung, und die kann er, der Pförtner, ihm auch nicht erteilen, er wird eine Nachricht hinunterschicken. Kurz darauf sehen sie beide, wie eine junge Frau auf sie zugeht und ihr etwas ins Ohr flüstert, sie sehen auch die unwillige Verwunderung, das Stirnrunzeln wegen der Störung, die Trägheit, mit der sie sich erhebt, wodurch er bereits weiß, daß er nicht hätte kommen sollen. Du, wird sie sagen, wenn sie vor ihm steht, du hier, der Ton geschärft durch die Entfernung, die sie aus der Welt hat zurücklegen müssen, die jetzt die ihre ist, in die er nicht mehr gehört, jemand aus Berlin, jemand, der ihr auf eine Weise zu nahe gekommen ist, von der er selbst noch nichts weiß, der Gefahr verkörpert, weil er eine Schwäche gefunden hat, an die sie nicht erinnert werden will, er kann es daran erkennen, wie sie wieder nach unten geht, an der tückischen Vergrößerung des Filmbilds, in dem sie jetzt wieder auf dem Monitor erscheint: eine Schauspielerin, die das Drama steigert, Fiktion daraus macht, eine Frau, die fast mit Wut die großen Mappen zuknotet, die Papiere ordnet, beinahe streichelt, sich noch einmal nach dem jetzt leeren Platz am Tisch umsieht, aus dem Bild verschwindet, in dem er sie nie mehr sehen wird, und dann in der bestürzenden Wirklichkeit von Menschen, die außerhalb des Bildschirms leben müssen, wieder vor ihm steht.
    Zu nahe sind wir gekommen, es nimmt uns den Atem, so darf es nicht sein. Engagement ist nicht unsere Sache, wenngleich das nicht immer ganz leicht ist. Und wir hatten versprochen, uns kurz zu fassen, daran haben wir uns nicht gehalten. Wir ziehen uns zurück, das Auge braucht Abstand. Loslassen dürfen wir aber auch noch nicht, wir folgen aus der Ferne. Nein, nicht als Vorstellung, wenngleich es dann vielleicht verständlicher würde. Denn das bleibt das Rätsel, daß ihr mit denselben Gegebenheiten – ein Mann, eine Frau – so unendlich viele Variationen erdacht habt, die alle wie eine Persiflage der anderen aussehen, Klischees der Leidenschaft, eine Quantenzahl an Möglichkeiten, die nur jene, die es betrifft, berühren. Wie ihr das nennen wollt, müßt ihr selbst wissen. Wir kommen noch ein mal wieder, doch von unseren vier Worten dürft ihr euch nichts versprechen. Nennt es eine Geste der Ohnmacht. Nein, das ist nicht erlaubt, auch das nicht.
    *
    * *

»Wo gehen wir hin?«
    Und dann, ohne die Antwort abzuwarten: »Mir wäre es lieber gewesen, wenn du nicht gekommen wärst.«
    »Das klingt feindselig.«
    Sie blieb stehen.
    »So ist es nicht gemeint. Nur … es paßt nicht mehr. Ich sag’s lieber gleich.«
    Er antwortete nicht.
    »Wo wolltest du
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