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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen
Autoren: Cees Nooteboom
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alles Anekdotische, Überflüssige zu verschleiern.
    Woher kommen plötzliche Eingebungen?
    Es gab zwei Gemälde von Caspar David Friedrich, die er jetzt sofort sehen wollte, eigenartige, pathetische Bilder. Hatte im Schaufenster bei Schoeller vielleicht ein Buch über den Maler gelegen? Er konnte sich nicht erinnern. Friedrich, so richtig mochte er seine Werke nicht mal, und dennoch sah er diese beiden Bilder deutlich vor sich. Die verlassene Ruine eines Klosters, triefend vor Symbolik. Tod und Verlassenheit. Und das andere, fast idiotisch, eine Landschaft mit violetten Bergen, Nebel, eine wogende, wellige Ebene, und in deren Mitte ein unmöglich hoher Felsen mit einem noch unmöglicheren Kreuz obendrauf. Ein dünnes Kreuz, ein dürftiges Kreuz, wie nannte man das? Auch wieder zu hoch, und am Fuße dieses Kreuzes eine Frau in etwas, das einem Ballkleid glich, eine Frau, die ohne Mantel von einem Ball beim Herzog von P. weggelaufen war und in ihrem viel zu dünnen Kleid einen entbehrungsreichen Marsch zu diesem bizarren Felsen unternommen hatte, auf dem der Gekreuzigte ohne Mutter und ohne den Täufer, ohne Römer und Hohepriester in unerreichbarer Einsamkeit leidend hing. Es war zu weit weg, als daß man einen Ausdruck auf den Gesichtern hätte erkennen können. Die Frau half einem Mann, der hinter ihr ging, bei den letzten Schritten, die er noch zu klettern hatte, doch sie sieht ihn dabei nicht an, und er hat den Rücken eines Menschen, der sich niemals umdrehen wird. Zu diesem Bild gehörte eine betäubende religiöse Stille oder ein bilderstürmerisches Gelächter, das höhnisch zwischen den violetten Felswänden hin und her geworfen würde. Für diese Interpretation war in der geschlossenen Welt Friedrichs allerdings kein Millimeter Platz, sie stammte aus seiner eigenen, verdorbenen Seele des zwanzigsten Jahrhunderts. Ironie gleich null, die Apotheose des großen Schmachtens. Wie er gesagt hatte, ein ernsthaftes Volk. Und dennoch hatte er einen Freund, mit dem man viel lachen konnte, der ein ganzes Buch über den Maler geschrieben hatte. Und Victor hatte ihm erklärt, warum einem bei Friedrich alle Männer den Rücken zukehren, es hatte mit Abschied zu tun, Weltabgewandtheit, doch was es genau gewesen war, hatte er vergessen. Vielleicht würde es ihm einfallen, wenn er das Bild sah, es hing im Schloß Charlottenburg, nicht weit von hier.
    »Hallo! Hallo!«
    Nein, er sah wirklich nicht, woher diese Laute kamen, und das bedeutete, daß der Mensch, der da rief, eine Frau, wie es sich anhörte, ihn durch den Schnee auch nicht sehen konnte, und somit nicht ihn rief, sondern die ganze Welt.
    »Hallo! Hallo! Kann mir jemand helfen? Hilfe bitte! Hilfe!«
    Auf gut Glück ging er durch die wilden weißen Böen auf die Stelle zu, von der die Rufe zu kommen schienen. Das erste, was der Regisseur in ihm sah, war die Szene: ihr Unsinn. Eine Soldatin der Heilsarmee kniete bei einem Neger, der möglicherweise tot war. Heimatlose, Obdachlose, Junkies, Penner, Schreihälse, wohin er auch kam in der Welt, die Straßen waren voll von ihnen. Vor sich hinbrabbelnd, suchend, in Lumpen gehüllt, schwarz vor Schmutz, mit gewaltigen verfilzten Haarmähnen, schweigend, schimpfend oder bettelnd liefen sie durch die Städte, als seien sie aus einer Urzeit gekommen, um die Menschheit an irgend etwas zu erinnern, nur woran? Etwas starb fortwährend auf dieser Welt, und sie machten es sichtbar. Arthur Daane hatte sich überlegt, daß sie in die Bestürzung verwandelt waren, die er nur ab und zu fühlte, aber er wußte auch, daß eine nicht zu benennende Anziehungskraft davon ausging, als sei es möglich, sich einfach danebenzulegen und den Karton um sich zu falten, gute Nacht, wart’s ab, ob du noch einmal aufwachst. Zeit, wenn irgend etwas in ihrem Leben abgeschafft war, dann das. Nicht die dunkle oder helle Zeit des Tages und der Nacht, sondern die gedachte Zeit des Ziels und der Richtung. Zeit, die irgendwo hinging, gab es in ihrem Leben nicht mehr. Sie hatten sich einem raschen oder langsamen Verfall ausgeliefert, bis sie irgendwo liegenblieben, um aufgelesen zu werden, wie dieser hier. Der wollte jedoch nicht aufgelesen werden, soviel war klar. Wie eine träge, schwere Masse hing er in den Armen der Heilsarmeesoldatin, die ihn aufzurichten versuchte. Sie war jung, Ende zwanzig, blaue Augen in einem blassen Heiligengesicht aus dem Mittelalter, Cranach im Schnee. Das mußte natürlich wieder ihm passieren. Er mußte sich bremsen, nicht den
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