Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
wodurch das Zufußgehen den Charakter einer Reise, einer Pilgerfahrt bekam. Bei der Seine wurde dieser Bruch durch Brücken gemildert, und dennoch wußte man immer, daß man irgendwo anders hinging, daß eine Grenze überschritten wurde, so daß man, wie so viele Pariser, auf seiner Seite des Flusses blieb, wenn keine Notwendigkeit bestand, das eigene Territorium zu verlassen. In Berlin war das anders. Diese Stadt hatte mal einen Schlaganfall erlitten, und die Folgen waren noch immer sichtbar. Wer von der einen Seite in die andere ging, durchquerte einen merkwürdigen Riktus, eine Narbe, die noch lange zu sehen sein würde. Hier war das trennende Element nicht das Wasser, sondern jene unvollständige Form der Geschichte, die Politik genannt wird, wenn die Farbe noch nicht ganz trocken ist. Wer dafür empfänglich war, konnte den Bruch fast körperlich spüren.
    Er trat auf die endlose Fläche des Ernst-Reuter-Platzes, sah, daß die hohen Metallampen in der Bismarckstraße (»das einzige, was von Speer übriggeblieben ist« – Victor) brannten, so daß die dahintreibenden, sich selbst nachjagenden Schneeböen dort kurzzeitig zu Gold wurden. Ihn fröstelte, aber nicht vor Kälte. Wie lange war es jetzt her, daß er zum erstenmal in Berlin war? Als Praktikant mit einem Team vom niederländischen Sender NOS, das über einen Parteitag im Osten berichten sollte. So etwas konnte man schon jetzt nicht mehr erklären. Wer es nicht miterlebt hatte, konnte es nie mehr nachempfinden, und wer es mitgemacht hatte, wollte nichts mehr davon wissen. So etwas gibt es, Jahre, in denen die Ereignisse dahinrasen, in denen Seite 398 Seite 395 schon längst vergessen hat und die Wirklichkeit von vor ein paar Jahren eher lächerlich als dramatisch wirkt. Es war ihm aber noch bewußt, die Kälte, die Bedrohung. Brav hatte er zusammen mit den anderen auf einem Holzpodest gestanden, um über das Niemandsland hinweg in die andere Welt zu blicken, in der er am Tag zuvor noch gedreht hatte. Selbst das war ihm damals unmöglich erschienen. Nein, darüber konnte man nichts Vernünftiges sagen, auch heute noch nicht. Wenn die steinernen Zeichen, Ruinen, Baugruben, leeren Flächen nicht gewesen wären, hätte man noch am besten alles als Produkt einer krankhaften Phantasie abtun können.
    Später war er häufiger in die erdachte Stadt zurückgekehrt, mitunter Monate am Stück. Er hatte Freunde gewonnen, die er gern wiedersah, bekam gelegentlich einen Auftrag vom SFB, doch nichts konnte erklären, weshalb diese geheime Liebe nun ausgerechnet Berlin galt und nicht Städten, in denen es angenehmer oder spannender war, wie zum Beispiel Madrid oder New York. Es mußte etwas mit der Größe zu tun haben, wenn er durch die Stadt ging, wußte er genau, was er damit meinte, ohne daß er jemand anders eine befriedigende Erklärung dafür hätte liefern können. »Ich bin überall ein bißchen ungern.« Dieser Satz war in ihm haften geblieben, weil er ihn so gut nachempfinden konnte. In diesem ungern , das man überall mit sich herumtrug, steckte eine essentielle Melancholie, die einem nicht viel nützte, doch hier ging die eigene Melancholie scheinbar eine Verbindung mit einem anderen, widerspenstigeren und gefährlicheren Element ein, das man vielleicht auch als Melancholie bezeichnen konnte, dann freilich eine der Dimensionen, der breiten Straßen, durch die ganze Armeen marschieren konnten, der pompösen Gebäude und der leeren Räume zwischen ihnen sowie des Wissens um das, was in diesen Räumen gedacht und getan worden war, eine Häufung ineinandergreifender und sich gegenseitig verursachender Bewegungen von Tätern und Opfern, ein Memento, in dem man Jahre umherstreifen könnte. Die Berliner selbst hatten, wahrscheinlich aus Selbsterhaltungsgründen, dafür keine Zeit. Sie waren damit beschäftigt, die Narben abzutragen. Doch was für ein unerträgliches Gedächtnis müßte man schließlich auch haben, um das zu können? Es würde an seiner eigenen Schwerkraft zugrunde gehen, zusammenbrechen, alles würde in ihm verschwinden, die Lebenden würden zu den Toten gesogen.
    *
    So dünn war der Verkehrsstrom auf der Otto-Suhr-Allee geworden, daß man hätte meinen können, es wäre eine Warnung ergangen, jetzt besser zu Hause zu bleiben. Auf den Bürgersteigen ging kaum mehr jemand, der sibirische Wind hatte freies Spiel. In der Ferne sah er bereits die ersten Schneeräumgeräte mit ihren neurotischen, giftig orangen Warnblinkleuchten, und auch die wenigen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher