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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen
Autoren: Cees Nooteboom
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aber wenn du nach Bosnien gingst …«
    »Ich will nicht mehr nach Bosnien.«
    »… dann kämst du mit etwas, was immerhin eine Minderheit einer Minderheit spannend findet und womit wir uns international sehen lassen können. Macht sich immer gut, so ’ne Auszeichnung im Foyer. Die dritte Welt krieg ich auch kaum noch durch, aber wenn du bereit wärst zu gehen …«
    »Die dritte Welt kommt in Kürze zu uns. Beziehungsweise ist schon da.«
    »Das will niemand wissen. Es muß weit weg bleiben.« Alibinummer. »Langeweile ist die physische Empfindung von Chaos«, hatte er erst vor kurzem irgendwo gelesen. Es gab überhaupt keinen Grund, jetzt daran zu denken. Oder doch? Die Gestalten im Saal, Männer und Frauen, wollten nicht menschlich werden. Flash ! Die eine Sekunde unmenschlicher, tierischer Langeweile, von Abscheu, Haß und Angst hing voll mit den Bildschirmen zusammen, an denen diese Körper festgewachsen waren, halbmechanische Zweiheiten mit Fingern, die auf die hellen Tasten tippten, wodurch Wörter auf den Schirmen erschienen, die so schnell wie möglich durchgespult werden würden, nun aber für einen kleinen Moment das Chaos, das die Welt war, darstellen mußten. Er versuchte, das Geräusch der Tasten in der abgrundtiefen Stille zu benennen. Am meisten ähnelte es noch dem leisen Glucken betäubter Hühner. Er sah, wie sich all diese gewaschenen Hände über die Tasten bewegten. Sie arbeiten, dachte er, das ist Arbeit . Was hatte der Redakteur gesagt? Aufbereiten, eindicken. Sie bereiten das Schicksal auf, die jüngste Vergangenheit des Schicksals. Gegebenheiten, das Gegebene. Aber wer hat es gegeben?
    »Und trotzdem hätte ich gern eine Sendung über Benjamin gemacht«, sagte er.
    »Versuch’s in Deutschland«, sagte der Redakteur. »Da bist du inzwischen bekannt genug.«
    »In Deutschland wollen sie eine Sendung über Drogen«, sagte Arthur Daane. »Und sie wollen wissen, warum wir sie noch immer hassen.«
    »Ich hasse sie nicht.«
    »Wenn ich ihnen das erzähle, wollen sie die Sendung nicht.«
    »Oh. Na, dann tschüs. Du weißt, wir sind immer offen für Vorschläge. Zumal wenn sie von dir kommen. Neue russische Kriminalität, Mafia und so, denk mal drüber nach.«
    Die Tür fiel mit einem Klick hinter ihm ins Schloß. Er ging durch den Saal, als ginge er durch eine Kirche, mit einem Gefühl großer Verlassenheit. Welches Recht hatte er, ein Urteil über die Menschen zu fällen, die dort saßen? Und wieder war da dieser Gedanke aufgetaucht, der ihn jetzt, in diesem anderen Jetzt, hier, in Berlin, wieder überkam. Was für ein Mensch wäre er geworden, wenn seine Frau und sein Kind nicht gestorben wären?
    »Thomas.« Das war Ernas Stimme. »Wenn du ihm seinen Namen nimmst, willst du ihn weghaben.«
    »Er ist schon weg.«
    »Er hat ein Recht auf seinen Namen.« Erna konnte sehr streng sein. Dieses Gespräch hatte er jedenfalls nie vergessen. Aber da war etwas Teuflisches an dieser Frage. Was für ein Mensch wäre er geworden? Jedenfalls hätte er die Freiheit, die ihn so von den anderen isolierte, nie gehabt. Allein dieser Gedanke löste schon ein Schuldgefühl aus, mit dem er sich keinen Rat wußte. Er war inzwischen so an seine Freiheit gewöhnt, daß er sich kein anderes Leben mehr vorstellen konnte. Doch diese Freiheit bedeutete auch Kahlheit, Armut. Und wenn schon? Das sah er auch bei den anderen, die Kinder hatten, die nicht, wie er einmal betrunken zu Erna gesagt hatte, »allein zu sterben brauchten«.
    »Arthur, hör auf. Ich kann dich nicht ausstehen, wenn du sentimental wirst. Das paßt nicht zu dir.«
    Er lachte. Mit diesen Gedanken war er noch nicht über den Steinplatz hinausgekommen. Erstaunlich, wieviel man auf ein paar hundert Metern denken konnte. An der Tür eines großen Hauses in der Uhlandstraße sah er einen provozierend blank geputzten Messingknauf. Auf ihm lag ein Schneehäufchen, wie Schlagsahne auf einem goldenen Eis. (»Du wirst immer ein Kind bleiben.«) Er ging hin und wischte den Schnee ab. Jetzt sah er sich selbst als Kugel, ein zusammengemanschter Zwerg, der Glöckner von Notre Dame. Er blickte auf seine unförmig geschwollene Nase, die seitlich wegschwimmenden Augen. Natürlich streckte er die Zunge heraus, das beste Mittel, all die Schemen zu verjagen. Dafür war dieser Tag nicht gedacht, dann konnte er sich ebensogut betrinken. Leer mußte der Tag bleiben, er würde etwas Unsinniges tun, und dabei würde ihm der Schnee helfen, der große Vertuscher, der nun dabei war,
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