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Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)

Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)

Titel: Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)
Autoren: Tuvia Tenenbom
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deutsche Studierende versammeln sich in der Nähe ihrer Wohnung, trinken, rauchen und haben Sex. Die alte Dame wird heute nacht nicht schlafen können, der Lärm ist schlicht unerträglich. Die Studis aber haben ihren Spaß. Nur daß sie sich nicht als »Spaßvögel« bezeichnen. Wie die Bumm-Rapper an der Sternschanze bezeichnen sich auch diese Studenten als Anarchisten. Und diese Anarchisten wollen Deutschland verändern. Weil das Leben hier nämlich sehr hart ist, auch wenn es mir schwerfällt, das nachzuvollziehen. Es gibt keine Freiheit, sagen sie mir. Ich kann mir das beim besten Willen nur so erklären: Die deutschen Behörden zwingen diese jungen Menschen, zu trinken, zu rauchen und Sex zu haben. Gnadenlos und ohne Unterlaß.
    Während der nächsten paar Tage grüble ich über eine einzige Frage: Warum bin ich hier? Ohne ein abgeschlossenes Studium in Psychiatrie oder dergleichen habe ich keine Chance, irgend etwas zu verstehen. Warum habe ich mich auf dieses Buchprojekt eingelassen? Vielleicht sollte ich einfach mal ins Kino gehen.
    Ein Filmplakat vor dem Abaton zeigt zwei schwule orthodoxe Juden in Israel. Der Film heißt Du sollst nicht lieben . Im Schaukasten des Kinos hängt ein Zettel, auf dem behauptet wird, laut dem Talmud gebe es gar keine Homosexualität. Ich weiß nicht, wer ihnen dieses spezielle Detail gesteckt hat, da es einfach nicht stimmt. Vielleicht wurden sie durch Bemerkungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad verwirrt, der in einer Rede an der Columbia University in New York unlängst beteuerte, im Iran gäbe es keine Homosexuellen.
    Vielleicht nehme ich aber auch all das zu wörtlich. Vielleicht steckt ein tieferer Sinn dahinter, der sich mir noch nicht erschließt. Vielleicht sind die Anarchisten Genies, und ich kapiere es nur nicht. Die deutsche Kultur muß so komplex sein, daß man sie nur unter größten Schwierigkeiten verstehen kann. Das klingt plausibel, oder? Mercedes, Audi, BMW sind ja schließlich auch alle deutsch.
    Zu jeder Anstrengung bereit, spaziere ich wieder in die Gegend um die Sternschanze, um einige der Demonstranten aufzutreiben und mir von ihnen erklären zu lassen, was sie da eigentlich vor einigen Nächten getrieben haben.
    An einem überaus häßlichen Ort namens Rote Flora lerne ich Ole kennen, einen jungen Mann, eigentlich noch ein halbes Kind.
    Kennen Sie die Rote Flora? Dort verkehren junge Menschen mit orangem und blauem Haar, das steil nach oben gegelt ist. Sie tragen üblicherweise zerrissene Lederjacken, schmutzige Hosen, sind überall gepierct und gern in Begleitung großer Hunde und großer Flaschen unterwegs.
    Nur zu gerne teilt mir Ole seine Lebensphilosophie mit:
    A. Er glaubt an den Frieden.
    B. Es sollte keine Polizei geben, die den Staat beschützt.
    C. Anarchie ist gut.
    D. Die Leute sollen die Dinge selbst regeln.
    Ein wenig von uns entfernt befindet sich ein selbstgebasteltes Mahnmal für einen Linken, der hier in der Gegend starb. In stiller Trauer   … Joe , ist darauf zu lesen.
    Woran ist er gestorben?
    »Weiß ich nicht.«
    Was würdest du tun, wenn es keine Polizei gäbe und dir ein Mörder in die Hände fiele?
    »Mit ihm reden, damit er’s bereut und nie wieder tut.«
    Und wenn jemand eine Frau vergewaltigt, was sollte dann mit ihm geschehen?
    »Dasselbe. Die Idee ist, daß die Leute es selber regeln sollen, ohne Polizei.«
    Hast du eine Freundin?
    »Nein.«
    Schon mal eine gehabt?
    »Ja.«
    Hast du sie geliebt?
    »Ja. Sehr.«
    Wenn ich sie vergewaltigt hätte, was hättest du dann mit mir gemacht?
    »Ich hätte dich umgebracht!«
    Moment mal! Hast du nicht gerade gesagt …
    »Bei meiner Freundin ist es was anderes!«
    Siehst du eine Logik in dem, was du sagst?
    »Ich muß los. Tut mir leid. Ich bin in Eile.«
    Ich muß aus diesen Leuten schlau werden!
    Ich wage mich in die Rote Flora hinein. Innen sind die Wände genauso mit Graffiti übersät wie draußen:
    NO MEANS NO! – NEIN heißt NEIN
    no border, no nation, stop deportation!!!
    Erst geschossen, NIE gedacht, JETZT habt IHR Kinder UMGEBRACHT
    Die müssen hier für irgend etwas kämpfen, nur bin ich nicht sicher, was es ist, oder ob sie in Wirklichkeit nicht dafür kämpfen, sondern dagegen. Dieser Ort sieht aus wie ein Stall, was ich nicht negativ meine: Ställe haben auch ihr Gutes. Doch die Graffiti sind der einzige Anhaltspunkt dafür, daß hier Menschen leben und nicht Pferde. Die Leute, allesamt jung, laufen zwischen den graffitiübersäten Räumen herum, wobei sie
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