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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Autoren: Christian Y. Schmidt
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1996 große Teile des Landes erobert, und nach dem Aufstand der Demokratiebewegung 2006 rückten sie sogar mit fünf Ministern in die Regierung ein. Im Moment aber drohen sie gerade wieder einmal damit, die Regierung zu verlassen und den bewaffneten Kampf erneut aufzunehmen, sollten bestimmte Forderungen nicht erfüllt werden.
    Als alter Maoist habe ich natürlich viele Fragen, die ich diesen Leuten gerne stellen würde. Was mich am meisten interessiert: Wie kann man heute noch Maoist sein, wo man doch schon weiß, was aus dem Maoismus geworden ist? Ich bin auch deshalb so gespannt auf die Antwort, weil der Vorsitzende der nepalesischen Maoisten ungefähr so alt ist wie ich. Er hat sich den Kampfnamen Prachanda gegeben, was so viel heißt wie Der Unerbittliche. Dafür sind seine Ansichten allerdings seltsam liberal. In einem Interview mit der italienischen Zeitung L’espresso erklärte Prachanda beispielsweise, dass er sich durchaus eine Mehrparteien-Diktatur des Proletariats vorstellen könne und in einem maoistisch regierten Nepal ausländische Investoren willkommen seien. Am meisten jedoch verblüfft die mittelfristige Kampfperspektive dieses eigenartigen Revolutionärs: «In zwanzig Jahren», sagt er in demselben Interview, «wollen wir so ähnlich sein wie die Schweiz. Das ist unser Ziel.» Die Schweiz als maoistische Utopie, davon stand damals nichts in Maos kleinem rotem Büchlein.
    Die Maoisten sind allerdings in Kathmandu nicht so einfach anzutreffen wie die Haschisch-Dealer. Zwar steht jeden Tag etwas über sie in der Zeitung. Vorgestern haben Mitglieder ihrer Jugendorganisation versucht, einen Abgeordneten der Kongresspartei zu verprügeln, vor ein paar Tagen wurde die Auslieferung verschiedener Tageszeitungen verhindert, und vorige Woche hat man den Wagen des US-Botschafters mit Steinen beworfen. Für die Müllberge in der Stadt sind die Maoisten auch verantwortlich und dafür, dass keiner zur Uni geht und niemand zur Schule, denn sie haben einen Streik im öffentlichen Dienst ausgerufen. Aber ich weiß natürlich nicht, wo sie heute oder morgen zuschlagen werden. Schon sie irgendwie zu identifizieren ist sehr schwierig. CPN-Maoist, Kommunistische-Partei-Nepals-Maoisten also, ist zwar kein besonders schwer zu merkender Name. Aber in Nepal wimmelt es von kommunistischen Parteien, die sich nur durch einen Bindestrichzusatz unterscheiden, der vorzugsweise irgendetwas wie «vereinigt» beinhaltet. Es gibt die CPN-UML (United Marxist-Leninists), die CPN-UC-M (Unity Centre-Masal), die CPN-Unified, CPN-United Marxists und die CPN-United. Dazu kommt noch die kommunistische Nepal Workers and Peasants Party. Und selbstverständlich benutzen fast alle Hammer und Sichel als Emblem.
    So bleibt mir nichts anderes übrig, als die Augen offen zu halten und mich auf der Suche nach den Maoisten einfach auf mein Glück zu verlassen. Dabei kommt mir entgegen, dass vor allem die jungen Männer in Kathmandu sehr kommunikativ sind. Kaum tritt man auf die Straße, sprechen sie einen an. «Hello! Namaste! Sir!», lautet die freundlich betonte Standardbegrüßungsformel, was mir sehr viel besser gefällt als das auf ein «Hello» reduzierte chinesische Geschrei. Auch danach geht es in der Regel ausgesucht höflich weiter: «Darf ich Sie fragen, aus welchem Land Sie kommen?» Und meistens haben diese jungen Leute auch etwas Vernünftiges anzubieten, wie Trekking-Touren, Opium, Ecstasy und Kokain. Nur wenn man sie direkt nach den Maoisten fragt, geben sie eine ausweichende Antwort. «Sorry, Sir. Für gewöhnlich interessiere ich mich nicht für Politik.»
    Also versuche ich, die Maoisten möglichst nicht explizit zu erwähnen, sondern indirekt an Informationen zu kommen. «Deutschland ist ein sehr entwickeltes Land, Sir», erzählt mir einer auf der Touristenstraße Chikamugal im Stadtteil Thamel. «Hauptstadt ist Berlin.» – «Das ist richtig», gebe ich zurück. «Natürlich», rühmt sich mein neuer Bekannter stolz: «Ich kenne jede Hauptstadt auf der Welt.» – «Okay», sage ich, «was ist denn die Hauptstadt von Lesotho?» – «Sorry, Sir. Wo ist das Land?» – «Im südlichen Afrika. Die Hauptstadt heißt Maseru.» – «Maser …?» – «Genau. Nächste Frage. Die Hauptstadt von Albanien?» – «Oh, das weiß ich. Bukarest …» Ha, da habe ich ihn schon erwischt. Wer nämlich die Hauptstadt des Landes nicht kennt, das einst mit China verbrüdert war und sich selbst als «Leuchtfeuer des Sozialismus in Europa»
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