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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Autoren: Christian Y. Schmidt
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Verzögerungen der Reise in Chengdu, Lhasa und Shigatse würde es kein Autor wagen, seine Leserschaft mit weiteren, nach demselben Muster inszenierten Hindernissen zu behelligen. Zu oft das gleiche Drama wirkt nur langweilig. Doch das echte Leben kennt kein Drehbuch, und so ist am nächsten Morgen der Jeep schon wieder kaputt. Eigentlich soll dieser Tag unser letzter in China sein. Vom Base Camp bis zur nepalesischen Grenze bei Zhangmu sind es knapp dreihundert Kilometer. Auch bei einem miserablen Streckenzustand ist das an einem Tag zu schaffen. Aber das Lenkradschloss des Jeeps ist eingerastet, und es lässt sich nicht mehr lösen, sosehr Dorje und Pemba auch an ihm rütteln und ruckeln.
    Jetzt stellt sich heraus, dass dies auch gestern das Problem war und der Idiot Dorje den Jeep trotzdem wieder abgeschlossen hatte. Gestern brauchten er und Pemba fünf Stunden, um das Schloss zu «reparieren». Fragt sich, wie lange es diesmal dauern wird. «Vielleicht einen Tag? Oder eine Woche? Oder zwei», antwortet mir Pemba. Das ist das erste Mal auf dieser Reise, dass ein asiatischer Mensch ironisch wird. Ich bin erstaunt, denn ironisches Sprechen ist den Chinesen, die ich kenne und die noch nie im Ausland waren, sehr fremd. Mag also sein, dass sich Tibeter und Chinesen tatsächlich in dieser Hinsicht unterscheiden. Im Moment bringt mich Pembas Bemerkung allerdings auf die Palme. Ich habe keine Lust mehr auf die nächtlichen Erstickungsanfälle, den Donnerbalken über der Scheißhausgrube, die kratzenden Wolldecken und vor allem auf diesen bescheuerten Berg. Ich will duschen, ich will vernünftig atmen, ich will den blöden Vollbart loswerden, der mir seit Lhasa wächst. Ich will Kinos, Kneipen, Konzerthallen, Karaoke, leichte Mädchen, Computerspiele und Fastfoodrestaurants oder schlicht: Zivilisation.

    Doch das Fabelland, in dem es all die schönen Sachen gibt, liegt gerade in weiter Ferne. Dorje und Pemba rütteln im Schichtbetrieb am Lenkrad. So haben sie es auch gestern gemacht, bis Dorje nach zwei Stunden anfing nachzudenken, das Schloss drei Stunden lang aus-und wieder einbaute und es dann ging. Warum er heute nicht gleich dasselbe macht, kann ich nicht begreifen. Aus unerfindlichen Gründen behaupten er und Pemba auch noch, wir seien schuld an dem Desaster. «Hätten wir nicht einen Tag mehr in Shigatse verbringen müssen, wären wir gestern schon weitergefahren.» Moment mal, es war doch nicht unsere Schuld, dass wir keine Permits hatten?
    Wir sehen allerdings ein, dass es keinen Sinn hat, den beiden den Widerspruch begreiflich zu machen. So ziehen wir uns lieber zurück und drücken uns außerhalb des Barackenhofs in der Landschaft rum. Nach drei Stunden ruft uns Pemba. Als ich näher komme, sehe ich, dass er ein unförmiges Stück Metall in der Hand hält. Es ist das Lenkradschloss, Dorje und er haben es herausgebrochen.
    «Wir können fahren», sagt Pemba, kommentiert aber das Schloss nicht weiter. Dabei hätte er gut Edmund Hillary zitieren können, der nach der Erstbesteigung des Everest meinte: «Well, wir haben den Bastard ausgeknockt.» Bastard, ja, der Name passt, jedenfalls besser als «Mutter des Universums».
    Wir brauchen wieder Stunden, bis wir vom Berg runter sind. Am frühen Nachmittag erreichen wir das Nest Tingri, das bei Kilometer 5194 wieder an der 318 liegt. Aus Ärger über die Beschimpfungen heute Morgen essen wir nicht mit Pemba und Dorje beim Tibeter, sondern in einem chinesischen Restaurant gleich nebenan, auch weil über dessen Eingang seltsamerweise in missglücktem Polnisch oder Serbisch «Restavrnctja» steht. Dann gibt es noch einmal für hundertfünfzig Kilometer tibetisches Licht, gemixt mit immer dickeren Wolken. Auf dem 5124 Meter hoch gelegenen La-Lung-Pass sind sie dem Erdboden so nahe, dass es aussieht, als lande gerade eine gewaltige Flotte Ufos. Danach wird die trockene Wüstenlandschaft langsam grüner. Kurz vor der Stadt Nyalam stehen die ersten Bäume an der Straße, und in den Tälern gibt es wieder grüne Wiesen und Gerstenfelder. Bis hierhin kommt der Monsun aus Indien. Ich kann es nicht fassen, aber es sieht ganz so aus: Das unendlich große China geht zu Ende. Noch nicht jetzt, aber gleich. Auf jeden Fall noch heute.
    Um siebzehn Uhr durchfährt der Jeep einen Torbogen, dahinter liegt Nyalam, bei Kilometer 5345. Die Stadt kommt dem, was ich unter Zivilisation verstehe, deutlich näher als jedes Kaff, das wir seit Shigatse passiert haben. Hier stehen echte
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