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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Autoren: Christian Y. Schmidt
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Kutscher übertragen, einen Jungen von vielleicht fünfzehn Jahren. Der prügelt derart unbuddhistisch mit seiner Reitgerte auf das magere Pony ein, dass wir auf dem Serpentinenweg zum Base Camp alle anderen Ponywagen überholen. Wir preschen noch durch einen kleinen flachen Bergsee, und schon sind wir da.
    Das sagt der brutale Ponywagenkutscher und auch eine Tafel: «Mount Qomolangma Base Camp, 5200 Meter». Damit stehen wir jetzt vierhundert Meter höher, als der höchste Gipfel der Alpen misst. Dafür ist hier allerdings alles sehr minimalistisch eingerichtet: ein kleines Armeecamp, das aus zwei Baracken mit je einem blauen und einem roten Dach besteht, davor ein Fahnenmast mit der chinesischen Flagge, die steinerne Hinweistafel und etwas abseits die wahrscheinlich höchste öffentliche Toilette der Welt. Bergsteiger, die sich, wie der Name suggeriert, im Basislager für den Aufstieg auf den Everest vorbereiten, gibt es dagegen keine. Die Bergsteigersaison geht jedes Jahr schon Ende Mai zu Ende, da dann das Wetter in den höheren Regionen des Everest sehr unfreundlich wird. Nur Reinhold Messner hat es gewagt, im August zu klettern. Doch der ist ja vermutlich auch kein Mensch, sondern wahrscheinlich ein aus der Zukunft geschickter Klettercyborg ohne Lunge.

    Nur rund zwanzig chinesische Touristen im bunten Outdoor-Outfit leisten uns hier oben Gesellschaft. Sie alle stehen mit fetten Kameras bewaffnet auf einem kleinen Hügel und warten schon seit Stunden darauf, was vom Berg zu sehen. Der sollte höchstens noch fünfzehn Kilometer entfernt sein, doch hinter dem dicken Wolkenvorhang sind seine Umrisse noch nicht einmal zu erahnen. Das Einzige, was wir sehen, sind eine weite Schotterebene und große, graue Schutthügel, die die Endmoräne eines Everest-Gletschers bilden. Doch nach nur zehn Minuten angestrengten Wartens kommt Bewegung in die Wolken. Sie werden immer dünner und geben zunächst nur die graue Basis des Berges frei. Dann erscheint immer mehr Weißes, und plötzlich reißt der Himmel auf, und der Gipfel liegt vor einem strahlend blauen Hintergrund unverhüllt vor uns. Er sieht genauso aus, wie ich ihn von Postkarten und aus Bildbänden kenne.
    Ich drehe mich zu Jean um, der diesem Moment entgegengefiebert hat. Er hockt auf einem Stein und hat Tränen in den Augen. «Das ist», sagt er leise, «einer der schönsten Momente in meinem Leben.» Ich dagegen fühle keine Rührung. Sicher, das da vorn mag der höchste Berg der Welt sein. Doch er macht wirklich keinen besonders imponierenden Eindruck. Er sieht eher ziemlich flach aus und überhaupt nicht schwer zu besteigen, sieht man mal davon ab, dass es dort oben so gut wie keine Luft gibt. «Ich kann nicht verstehen», hat die erste Frau auf dem Gipfel, die Japanerin Junko Tabei, einst gesagt, «warum Männer einen solchen Wirbel um den Everest machen – es ist nur ein Berg.» Ich glaube, das ist auch meine Meinung.
    Trotzdem beneide ich Jean für einen Augenblick um seine Rührung. Bin ich nicht einfach zu begeisterungsunfähig und zu zynisch und sehe deshalb die Welt immer nur so, wie sie ist, äh, ich meine grau in grau? Bisher hatte ich gedacht, diese Haltung käme automatisch mit dem Alter. Weil man schon so viel gesehen hat, stumpft man ab, wird bitter, und nichts haut einen mehr um. Aber jetzt beweist dieser vierundfünfzigjährige Franzose ganz klar, dass Rührung keine Frage des Alters ist.

    Vielleicht sollte ich wirklich versuchen, nicht Chinese zu werden, sondern ein bisschen mehr so wie Jean? Vielleicht wird mein Leben dann viel besser und entspannter? Aber kaum sind diese Gedanken gedacht, macht Jean schon alles wieder zunichte. Ausgerechnet jetzt holt er seine Devil Sticks aus der Tasche und beginnt damit vor dem Hintergrund des Everest zu jonglieren; ich soll ihn dabei fotografieren. Das sieht so peinlich aus, dass alle Jeanwerdungsgedanken sofort wieder von mir abfallen. Nein, nein, dies ist nicht die angemessene Weise, über diesen Planeten zu wandeln. Also bleibe ich auch bei meinem Urteil über den Everest: Für mich ist und bleibt der Berg enorm überschätzt. Und das Einzige, was ich hier oben fühlen kann, ist die Gewissheit, dass ich den Rest meines Lebens mit diesen paar Minuten am Everest Base Camp angeben werde wie nichts Gutes. So viele Leute kommen ja nun auch nicht hier vorbei.
    Ich werde sogar noch ein bisschen mehr prahlen können, denn Jean schafft es seltsamerweise, mich zu überreden, noch weiter in Richtung Everest zu
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