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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Autoren: Christian Y. Schmidt
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gehen. Wir marschieren über die große Schotterebene, wo zur Saison von Januar bis Mai die Basislager der Gipfelstürmer aufgebaut werden. Herumfliegende Plastikwasserflaschen und die in diesem Teil Tibets allgegenwärtigen Red-Bull-Dosen sind das Einzige, was um diese Jahreszeit noch an die Lager erinnert. Danach durchqueren wir barfuß einen breiten Gebirgsbach, dessen eiskaltes Wasser einem nahe gelegenen Gletscher entspringt. Das fühlt sich an, als würden sich Eiszapfen durch die Fußsohlen bohren. Unwillkürlich muss ich an Reinhold Messners abgefrorene Zehen denken. Ich will sofort umdrehen, aber Jean drängt mich zum Weitergehen.
    Also steigen wir auch noch auf die Gletscherendmoräne. An ihrem Fuß kommen uns drei chinesische Frauen entgegen, in Begleitung eines Soldaten. Der Soldat will uns zurückschicken: «Das hier ist Sperrgebiet. Wer weitergeht, muss Strafe zahlen.» Ich freue mich schon, dass damit wohl dieser Marsch ein Ende hat und wir vielleicht sogar in ein komfortables Armeegefängnis gesperrt werden, aber Jean bettelt den Soldaten so lange an, bis er uns passieren lässt. Jetzt, wo es auch noch steil nach oben geht, fällt jeder Schritt dreimal so schwer. Obendrein ziehen sich hinter uns wieder schwarze Gewitterwolken zusammen. Mir fällt ein, dass die plötzlichen Wetterumschwünge am Everest schon etliche Menschenleben gekostet haben. Als wir zwei kleine, blaugrün schimmernde Gletscherseen erreichen, denke ich, das ist ein Zeichen, und sage zu Jean: «Für mich ist hier Schluss.»

    Das ist der Moment, in dem mich dann doch noch ein kleiner Glücksschauer überkommt, ganz plötzlich, ohne dass ich damit gerechnet habe. Wir sind jetzt auf vielleicht fünftausendzweihundertsiebzig Metern, und geradeaus, in ein paar Kilometern Entfernung, sehe ich tatsächlich das erste Eis des Everest-Gletschers schimmern. Ich hätte nie gedacht, dass ich dem höchsten Berg der Welt einmal so nahe sein würde. Und ich weiß, dass ich in diesem Leben auch nie wieder an einem höheren Punkt stehen werde als an diesem hier. Man kann das negativ sehen. «Von dort aus», meinte Everest-Besteiger Willi Unsoeld nach seinem Gipfelsturm, «geht es nur noch bergab.» Doch für mich ist gerade das ein Grund zur Freude. Ja, bergab, nur noch bergab soll es in meinem Leben gehen. Ich lebe wirklich gerne im Flachland.
    Jean aber hat noch nicht genug vom Berg. «Diese Gelegenheit kommt nie wieder», sagt er. «Ich gehe allein weiter. Ich hoffe, dass du nicht böse bist.» – «Nein», heuchele ich, «kein Problem.» Doch in Wirklichkeit hege ich gleich wieder finstere Gedanken. «Geh nur», denke ich. «Und viel Spaß im heraufziehenden Schneesturm. Du hast doch keine Ahnung, wie das Wetter hier so spielt.» Auch Christian und Sebastian habe ich abgeschrieben. Wenn die beiden immer noch unterwegs sind, wird sie der Blizzard wahrscheinlich bei sechstausend Metern erwischen, irgendwo an der Schneegrenze. Und dass sie aus Alpenländern stammen, wird ihnen dann auch nicht mehr viel nützen. Ich jedenfalls sehe schon die Bilder vor mir: wie Jean, Christian und Sebastian im eisigen Sturm in den Schnee fallen, mit schon halberfrorenen Extremitäten und aufgerissenen Mündern, wie dann ihre Augen brechen und sich langsam eine gnädige Schneedecke über sie senkt. Ich, da bin ich mir beim Abstieg vom Base Camp ziemlich sicher, werde der Einzige von uns vieren sein, der diesen Ausflug überlebt. Und so, denkt es in mir düster, geht also meine Reise, die so hoffnungsfroh begann, jetzt mit einer großen Tragödie zu Ende.

    Vielleicht würde dieses Buch tatsächlich so dramatisch enden, wäre es ein Roman und hätte ich mir diese Reise nur ausgedacht. Doch in der Wirklichkeit wird nicht so schnell gestorben. Der Schneesturm findet gar nicht statt, und Sebastian, Christian und selbst Jean tauchen bereits am Abend wieder wohlbehalten im Rongphu-Gulag auf. Nur der Maler Jörg Immendorff ist tot, allerdings schon seit Ende Mai. Das erfahre ich beim Plausch in der verqualmten Hütte von einer deutschen Mutter, die eine frappante Ähnlichkeit zwischen Jean und dem deutschen Malerfürsten entdeckt haben will. Zwar geht mir Immendorffs Tod nicht wirklich nahe, aber auch er war einst Maoist. Und hat trotzdem nie auf dem Everest gestanden, dafür verwette ich mein linkes Bein.
    Dass sich die Wirklichkeit an keine Dramaturgie hält, zeigt sich gleich noch einmal am nächsten Morgen. Nach all den Wartereien auf Genehmigungen und anderen
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