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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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Flora entfernte sich an Saniers Arm. Regine hakte Roger ein; sie schritten durch eine enge Straße, deren Häuserfronten frisch getüncht und mit Wahrzeichen aus buntem Glas geschmückt waren: «Zur Grünen Mühle», «Zum Blauen Affen», «Zum Schwarzen Kater»; alte Frauen saßen auf der Türschwelle und riefen sie an, als sie vorübergingen. Dann kamen sie in bürgerliche Straßen mit dichten Fensterläden, in die herzförmige Öffnungen geschnitten waren. Es wurde schon hell, doch schlief noch die ganze Stadt. Auch das Hotel war noch nicht wach.
    Roger streckte sich gähnend: «Ich bin furchtbar müde.»
    Regine trat an das Fenster, das auf den kleinen Hotelgarten ging, und zog den Rolladen hoch.
    «So ein Mann!» sagte sie. «Ist der jetzt schon aufgestanden? Warum steht der wohl so früh auf?»
    Auf einem Liegestuhl ruhte der Mann, regungslos wie ein Fakir. Jeden Morgen war er da. Er las nicht, schlief, sprach mit niemandem; mit weit geöffneten Augen starrte er zum Himmel empor; ohne sich zu bewegen, lag er da auf dem Rasen, vom Morgengrauen bis in die Nacht.
    «Kommst du nicht schlafen?» fragte Roger.
    Sie zog auch noch den anderen Vorhang auf und machte das Fenster zu. Roger sah sie lächelnd an. Sie würde unter die Decke gleiten, sie würde ihren Kopf auf das gewölbte Kopfkissen legen, und er würde sie in seine Arme nehmen; dann würde niemand mehr auf der Welt sein als sie und er. Und in einem anderen Bett würde Flora mit Sanier   … Sie ging auf die Tür zu.
    «Nein, ich gehe frische Luft schöpfen.»
    Sie schritt über den Flur und hinunter durch das schweigende Treppenhaus, in dem kupferne Wärmpfannen schimmerten; es graute ihr davor, einfach einzuschlafen; während man schlief, wachten andere, und man vermochte nichts über sie. Sie drückte die Tür zum Garten auf: eine grüne Rasenfläche, die von kiesbestreuten Wegen und vier Mauern umgeben war, an denen eine magere Virginiarebe wuchs. Sie streckte sich auf einem Liegestuhl aus. Der Mann hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Er schien niemals etwas zu sehen oder zu hören. Ich beneide ihn. Offenbar weiß er nicht, wie weit die Erde ist und wie kurz das Leben; er weiß nichts davon, daß andere existieren. Er begnügt sich mit diesem viereckigen Stück Himmel über seinem Kopf. Ich selber möchte, daß alles mir gehörte, als liebte ich nur gerade dies eine auf der Welt; aber ich will alles; und meine Hände sind leer. Ich beneide ihn. Sicherlich kennt er gar nicht diesen nagenden Überdruß.
    Sie warf den Kopf zurück und blickte zum Himmel auf: ich bin da, und über mir ist da dieser Himmel, das ist alles und ist genug. Aber sie täuschte sich selbst. Sie konnte nicht hindern, daß sie an Flora dachte, die jetzt in Saniers Armen lag und an sie nicht dachte. Sie blickte auf den Rasen. Es war ein sehr altes Leiden. Sie lag auf einem ganz gleichen Rasen, die Wange gegen die Erde gedrückt, Insekten liefen im Schatten des Grases umher, und der Rasen war ein unendlicher, einförmiger Wald, in dem sich Tausende von kleinen grünen Lanzen streckten, alle ganz gleich, ganz ähnlich, und die einen verdeckten den anderen die Welt. Angsterfüllt hatte sie gedacht: Ich will kein Grashalm sein. Sie wandte den Kopf. Auch dieser Mann dachte nicht an sie; er unterschied sie kaum von den Bäumen und von den Stühlen, die verstreut auf dem Rasen standen; sie war nur ein Stück der Dekoration. Er hatte etwas Aufreizendes; sie hatte Lust,seine Ruhe zu stören und für ihn zu existieren. Er brauchte nur zu sprechen; dann würde sofort alles einfach sein: wenn sie antworteten, war das Geheimnis verschwunden, sie wurden durchsichtig, wurden hohl, und man warf sie gleichgültig fort, es war so leicht, daß sie an diesem Spiel kaum noch Vergnügen hatte, sie war im voraus gewiß, daß sie gewinnen würde. Aber dieser ruhige Mann da drüben regte sie auf. Sie sah ihn prüfend an. Er war eher schön, mit großer, gebogener Nase, er schien sehr groß und von athletischem Bau; er schien jung zu sein; wenigstens war seine Haut, die Färbung seiner Haut die eines jungen Mannes. Er schien nicht zu merken, daß jemand in seiner Nähe war; sein Gesicht war so unbewegt wie das eines Toten, seine Augen blieben leer. Wie sie ihn so ansah, beschlich sie etwas wie Furcht. Sie stand wortlos auf.
    Er mußte wohl etwas hören, denn er sah sie an. Jedenfalls ruhte sein Blick auf ihr, und sie lächelte flüchtig. Die Augen des Mannes hingen an ihr, daß es fast unverschämt war; aber
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