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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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er sah sie nicht. Sie wußte nicht, was er sah, und einen Augenblick lang dachte sie: Bin ich denn gar nicht da? Oder bin ich es nicht? Einmal hatte sie solche Augen gesehen, als ihr Vater ihre Hand hielt, auf seinem Bett ausgestreckt, ein Röcheln tief in der Kehle; er hielt ihre Hand, und sie hatte schon keine Hand mehr. Sie blieb wie angewurzelt stehen, stimmlos, gesichtslos, wesenlos: eine bloße Attrappe. Dann kam sie wieder zu sich. Sie machte einen Schritt. Der Mann schloß die Augen. Wenn sie sich nicht bewegt hätte, so schien es ihr, hätten sie in Ewigkeit einander angeschaut.
     
    «So ein komischer Mensch!» sagte Annie. «Er ist nicht einmal zum Mittagessen in das Haus gegangen.»
    «Ja, komisch», sagte Regine.
    Sie reichte Sanier eine Tasse Kaffee. Durch die Verandafensterblickte man in den Garten, man sah den Gewitterhimmel, den Mann auf dem Liegestuhl mit seinen schwarzen Haaren, den Flanellhosen und dem weißen Hemd. Immer blickte er zu der gleichen Ecke des Himmels auf mit Augen, die nichts sahen. Regine hatte diesen Blick nicht vergessen; sie hätte gern gewußt, wie sich die Welt präsentierte, wenn man sie mit solchen Augen anstarrte.
    «Ein Neurastheniker», sagte Roger.
    «Damit erklärt man nichts», gab Regine zurück.
    «In meinen Augen ist er ein Mann, der nicht glücklich war», meinte Annie. «Was halten Sie davon, holde Königin?»
    «Vielleicht», sagte Regine.
    Vielleicht lag auf diesen Augen ein für immer erstarrtes Bild wie ein Nebelfleck. Wie mochte sie ausgesehen haben? Wodurch verdiente sie solches Glück? Regine strich sich mit der Hand über die Stirn. Die Hitze lastete. Sie fühlte, wie die Luft auf ihre Schläfen drückte.
    «Noch eine Tasse Kaffee?»
    «Nein», sagte Sanier. «Ich habe Flora versprochen, sie um drei Uhr zu treffen.»
    Er stand auf, und Regine dachte: Jetzt oder nie.
    «Versuchen Sie doch, Flora zu überzeugen, daß diese Rolle nichts für sie ist», sagte sie. «Sie schadet sich nur und hat nichts davon.»
    «Ich werde es versuchen. Aber sie hat ihren Kopf für sich.»
    Regine hüstelte. Sie fühlte einen Druck im Hals. Aber jetzt oder nie. Sie durfte Roger nicht ansehen, nicht an die Zukunft denken, an gar nichts denken, nur springen. Sie stellte ihre Tasse auf die Untertasse.
    «Man müßte sie Mauscots Einfluß entziehen. Er berät sie schlecht. Wenn sie noch lange bei ihm bleibt, verdirbt sie sich die Karriere.»
    «Mauscot?» fragte Sanier zurück.
    Seine Oberlippe legte die Zähne bloß; das war seine Art zu lächeln; doch er war rot geworden, und auf seiner Stirn waren die Adern geschwollen.
    «Was? Wissen Sie das nicht?» sagte Regine.
    «Nein», sagte Sanier.
    «Aber das weiß doch jeder», rief Regine aus. «Das geht doch schon zwei Jahre lang.» Und sie fügte hinzu: «Er hat Flora sehr genützt.»
    Sanier zog seine Jacke glatt. «Davon wußte ich nichts», sagte er geistesabwesend. Er reichte Regine die Hand hin: «Auf bald.»
    Seine Hand war warm. Er ging ruhig und etwas steif auf die Tür zu, der Zorn machte ihn befangen. Alle schwiegen. Es war geschehen. Niemand konnte es mehr ungeschehen machen. Regine war sich genau bewußt, daß sie nie im Leben das Klirren vergessen würde, mit dem sie die Tasse niedergesetzt hatte, niemals den schwarzen Kaffeerand auf der gelben Untertasse.
    «Regine! Wie konntest du nur!» rief Roger.
    Seine Stimme bebte; seine zärtliche Art, die vertraute Heiterkeit seines Blicks waren wie ausgelöscht; er war ein Fremder, ein Richter. Regine stand allein auf der Welt. Sie errötete und haßte sich selbst deswegen.
    «Du weißt ganz genau, daß ich keine Heilige bin», brachte sie langsam hervor.
    «Aber was du getan hast, ist einfach niederträchtig.»
    «So nennt man so etwas, ja», gab sie zu.
    «Was hast du gegen Flora? Was habt ihr miteinander gehabt?»
    «Nichts.»
    Roger ließ seinen Blick trauernd über sie gleiten: «Ich verstehe dich nicht», sagte er.
    «Es gibt nichts zu verstehen.»
    «Versuche doch wenigstens, es mir zu erklären», sagte er.«Ich muß ja sonst denken, du hast aus purer Bosheit gehandelt.»
    «Denke, was du willst», stieß sie heftig hervor. Sie packte die bestürzte Annie am Handgelenk: «Und dir verbiete ich, über mich urteilen zu wollen», zischte sie.
    Sie ging zur Tür hinaus. Draußen sah man förmlich, wie der bleierne Himmel auf der Stadt lastete, kein Lüftchen regte sich. Regine fühlte, wie Tränen ihr in die Augen stiegen. Als wenn es so etwas wie pure Bosheit gäbe! Als
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