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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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begegnet; Flora lächelte und zeigte dabei ihre schönen Kinderzähne; sie hörte gleichsam in sich selbst die Worte, die er eben gesagt haben mochte und die er sagen würde: Eines Tages wirst du eine große Schauspielerin sein. Du bist nicht wie andere Frauen. Regine nahm an Rogers Seite Platz. Sanier täuscht sich, dachte sie, und Flora täuscht sich auch; sie ist ein kleines Mädchen ohne wahres Genie; keine andere Frau kann sich mit ihr vergleichen. Aber wie das beweisen? Flora fühlt in sich die gleiche Sicherheit wie ich. Und sie macht sich übermich keinerlei Gedanken; während sie wie eine Wunde in meinem Herzen schwärt. Ich werde es beweisen, dachte sie leidenschaftlich.
    Sie nahm einen kleinen Spiegel aus der Handtasche und zog den Bogen ihrer Lippen nach; sie hatte das Bedürfnis, sich im Spiegel zu sehen; sie liebte ihr Gesicht; sie liebte den lebendigen Ton ihrer blonden Haare, die stolze Strenge der Nase und der hohen Stirn; die warme Glut ihres Mundes, die Kühnheit der blauen Augen; sie war schön, von einer so spröden und einsamen Schönheit, daß sie zunächst überraschte. Ach! dachte sie, könnte ich doch aus zwei Wesen bestehen, einem, das spricht, und einem, das zuhören kann, einem, das lebt, und einem anderen, das nur zuschauen darf: wie würde ich mich lieben! Keinen Menschen auf der Welt würde ich dann beneiden. Sie schloß die Handtasche. In dieser gleichen Minute lächelten Millionen Frauen ihrem Bild wohlgefällig zu.
    «Tanzen wir?» fragte Roger.
    «Nein, ich habe keine Lust.»
    Die beiden anderen waren aufgestanden, sie tanzten; sie tanzten schlecht, aber wußten es nicht und waren glücklich dabei. In ihren Augen stand Liebe: die Gesamtheit der Liebe; zwischen ihnen spielte sich das große Drama der Menschen ab, als habe niemals zuvor jemand auf Erden geliebt und als ob Regine nie Liebe empfunden hätte. Zum erstenmal begehrte ein Mann in Angst und Zärtlichkeit eine Frau, und zum erstenmal spürte eine Frau, wie sie in den Armen des Mannes zu einem Idol aus Fleisch und Blut erstand. Ein neuer Frühling brach blütenschauernd auf, einmalig wie jeder Frühling, und Regine war bereits tot. Sie grub ihre spitzen Nägel in die Fläche ihrer Hand. Es gab da nichts abzustreiten; kein Erfolg, kein Triumph konnten ungeschehen machen, daß in diesem Augenblick Flora in Saniers Herzen in höchster Glorie erstrahlte.
    «Ich werde es nicht aushalten, ich halte es nicht aus.»
    «Du willst doch nicht nach Hause?» fragte Roger.
    «Nein.»
    Sie wollte dableiben; sie wollte ihnen zusehen. Sie sah sie an und dachte: Flora lügt Sanier an; Sanier täuscht sich über Flora, ihre Liebe beruht auf einem Mißverständnis. Aber da Sanier nichts von Floras Falschheit wußte und Flora sich daran zu denken enthielt, unterschied sich ihre Liebe, sobald sie sich selbst überlassen waren, in nichts von wahrer großer Leidenschaft. Warum bin ich so beschaffen? fragte Regine sich. Wenn Leute um mich her leben, lieben und glücklich sind, habe ich das Gefühl, daß sie an mir einen Mord begehen.
    «Du siehst heute abend so traurig aus», sagte Sanier.
    Regine fuhr zusammen. Sie hatten gelacht, getanzt und gehörig getrunken. Die Tanzfläche war jetzt fast leer; sie hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit verrann.
    «Wenn ich gespielt habe», sagte sie, «bin ich immer traurig.» Sie nahm sich zusammen und lächelte. «Du hast Glück, daß du Schriftsteller bist: deine Bücher bleiben. Uns hört man nicht lange zu.»
    «Was macht das?» fragte Sanier. «Hauptsache, daß man Erfolg hat mit dem, was man gerade macht.»
    «Wofür?» sagte sie. «Für wen?»
    Er war ein klein bißchen betrunken; sein Gesicht blieb ganz unverändert, wie aus Holz geschnitten, aber die Adern an seiner Stirn traten stärker hervor. Mit Wärme fuhr er fort: «Ich bin sicher, daß ihr alle beide ganz ungewöhnlich Karriere machen werdet.»
    «Soviel Leute machen Karriere!» gab Regine zurück.
    Er lachte: «Du bist anspruchsvoll.»
    «Ja. Das ist mein Laster.»
    «Oder die oberste Tugend.»
    Er blickte sie auf eine freundschaftliche Weise an, und das war schlimmer, als hätte er sie verächtlich von sich gewiesen.Er sah sie, schätzte sie ab und liebte Flora indessen. Allerdings war er Rogers Freund, und niemals hatte Regine ihn zu verführen versucht. Aber ihr genügte, daß er sie kannte und doch in Flora verliebt sein konnte.
    «Ich werde müde», sagte Flora.
    Die Musiker waren schon dabei, ihre Instrumente einzupacken; sie gingen.
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