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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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flatterten, als wenn dies wenige Licht, das noch auf Erden verweilte, ihn schon blendete; er schien darunter zu leiden.
    Sie sagte noch einmal: «Kommen Sie herein. Sie werden ja sonst krank!»
    Er bewegte sich nicht. Sie sprach nicht mehr, doch er horchte noch, so als ob ihre Worte aus der Ferne kämen und als ob es ihm Mühe machte, sie richtig zu verstehen. Seine Lippen bewegten sich: «Das hat keine Gefahr», sagte er.
     
    Regine drehte sich auf die rechte Seite, sie war nicht mehr müde, konnte sich aber nicht zum Aufstehen entschließen;es war erst elf Uhr, und sie wußte nicht, wie sie den langen Tag zu Ende bringen sollte, der sie vom Abend trennte. Durch das Fenster sah sie ein Stück Himmel, das frisch geputzt und wie glänzend wirkte: auf Regen folgt Sonnenschein. Flora hatte ihr keine Vorwürfe gemacht, sie war eine Frau, die Scherereien nicht liebte; und Roger lächelte wieder. Man hätte glauben können, es sei nichts vorgefallen. Tatsächlich fiel ja auch niemals etwas vor.
    Sie schrak zusammen. «Wer klopft da?»
    «Nur das Zimmermädchen, sie will das Tablett holen», sagte Annie.
    Das Mädchen trat ein; sie nahm das Tablett vom Nebentisch und bemerkte dabei mit ihrer schartigen Stimme: «Es ist schön heute morgen.»
    «Es scheint so», gab Regine zurück.
    «Wissen Sie, daß dieser Verrückte von 52 bis zum späten Abend im Garten geblieben ist?» sagte das Zimmermädchen. «Und heute morgen ist er fort mit seinen nassen Kleidern, er hat sich nicht umgezogen.»
    Annie trat ans Fenster und blickte hinaus: «Seit wann ist er im Hotel?»
    «Es wird jetzt vier Wochen sein. Sobald die Sonne aufgeht, begibt er sich in den Garten; und abends kommt er erst wieder ins Haus. Er deckt sein Bett nicht auf, um sich schlafen zu legen.»
    «Und wann ißt er denn?» fragte Annie. «Bekommt er seine Mahlzeiten auf das Zimmer?»
    «Niemals», erklärte das Mädchen. «Während dieser vier Wochen hat er keinen Fuß aus dem Hotel gesetzt, und niemand hat ihn besucht. Es sieht so aus, als wenn er nicht ißt.»
    «Vielleicht ein Fakir», meinte Annie.
    «Er hat sicher was zu essen in seinem Zimmer», sagte Regine.
    «Ich habe niemals etwas gesehen», sagte das Zimmermädchen.
    «Er versteckt es irgendwo   …»
    «Vielleicht.» Das Mädchen lächelte und ging zur Tür.
    Annie schaute einen Augenblick aus dem Fenster, dann drehte sie sich um: «Ich möchte doch gern wissen, ob er Vorräte in seinem Zimmer hat.»
    «Wahrscheinlich.»
    «Ich möchte es wirklich wissen», sagte Annie.
    Sie schritt resolut aus dem Zimmer, und Regine streckte sich gähnend aus; mit Widerwillen betrachtete sie die bäuerlichen Möbel, den hellen Kretonne an den Wänden. Sie haßte diese anonymen Hotelzimmer, durch die so viele Leute gegangen waren, ohne Spuren zurückzulassen, und in denen sie niemals eine Spur lassen würde. Alles wird genauso sein, und ich bin nicht mehr da. So ist der Tod, dachte sie. Wenn man wenigstens in der Luft so etwas wie eine Einbuchtung zurückließe, in der sich der Wind mit Stöhnen fängt; aber nein; keine Runzel, kein Fältchen. Eine andere Frau wird in diesem Bett liegen   … Sie schlug die Decken zurück. Die Tage waren ihr so karg zugemessen, daß sie nicht eine Minute davon verlieren sollte, und da saß sie nun fest in dieser tristen Provinz, wo sie nur die Zeit totschlagen konnte, die Zeit, die sowieso so rasch stirbt. Diese Tage sollten mir nicht angerechnet werden, dachte sie. Man müßte Rücksicht darauf nehmen, daß ich sie ja gar nicht gelebt habe. Das würde für mich vierundzwanzig mal acht bedeuten, eine Reserve von 192   Stunden, die ich in jenen Perioden zusetzen könnte, wo die Tage zu kurz sind   …
    «Regine!» rief Annie. Mit geheimnisvoller Miene stand sie in der Zimmertür.
    «Was ist denn?»
    «Ich habe gesagt, ich hätte meinen Schlüssel im Zimmergelassen und habe im Büro einen Passepartout verlangt», sagte Annie. «Kommen Sie mit zum Fakir. Wir wollen doch mal sehen, ob er Eßvorräte hat.»
    «Wie kannst du so neugierig sein», sagte Regine.
    «Sind Sie es nicht mehr?» gab Annie zurück.
    Regine trat ans Fenster und lehnte sich hinaus, um nach dem Mann zu sehen, der unbeweglich dalag. Es war ihr eigentlich gleich, ob er aß oder nicht. Was sie hätte erforschen mögen, war das Geheimnis seines Blicks.
    «Kommen Sie», drängte Annie. «Wissen Sie nicht mehr, wie komisch es war, als wir in das kleine Haus in Rosay eingebrochen sind?»
    «Ich komme», sagte Regine.
    Sie folgte
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