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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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Samt in den Koffer.
    «Warum?»
    «Es amüsiert mich», sagte sie. «Du glaubst nicht, was für Fortschritte er schon in diesen vier Tagen gemacht hat. Wenn ich jetzt zu ihm spreche, so weiß ich, daß er mich hört, selbst wenn er keine Antwort gibt. Und oft antwortet er auch.»
    «Und wenn du ihn dann geheilt hast?»
    «Dann interessiert er mich nicht mehr», gab sie strahlend zurück.
    Roger legte den Bleistift hin und sah Regine an. «Du machst mir angst», sagte er. «Du bist ja ein richtiger Vamp.»
    Sie neigte sich näher zu ihm und legte ihm den Arm um den Hals: «Ein Vamp, der dir nie sehr weh getan hat.»
    «Oh, das kann noch kommen», äußerte er mißtrauisch.
    «Du weißt ganz genau», sagte sie und lehnte ihr Gesicht an seine Wange, «daß du von mir nichts zu fürchten hast.»
    Sie liebte seine überlegte Zärtlichkeit, seine kluge Ergebenheit; er gehörte ihr mit Leib und Seele an, und sie liebte ihn so sehr, wie sie überhaupt jemanden zu lieben vermochte, der nicht sie selber war.
    «Geht die Arbeit gut voran?» fragte sie.
    «Ich glaube, ich habe eine gute Idee für die Walddekoration.»
    «Dann lass’ ich dich lieber allein. Ich gehe nach meinem Patienten schauen.»
    Sie ging den Flur entlang und klopfte an der Tür von Nummer 52.
    «Herein.»
    Sie machte die Tür auf und ging bis in die Tiefe des Zimmers.
    «Kann ich Licht machen?» fragte sie.
    «Ja.»
    Sie knipste. Auf dem Tisch am Kopfende des Bettes bemerkte sie einen Aschenbecher voller Stummel und ein Paket Zigaretten.
    «Sieh da, Sie rauchen?» fragte sie.
    Er hielt ihr das Päckchen hin: «Es muß Ihnen doch eine Genugtuung sein.»
    «Mir? Warum?»
    «Die Zeit bewegt sich wieder für mich.»
    Sie setzte sich auf einen Stuhl und zündete eine Zigarette an. «Sie wissen, daß wir morgen reisen», sagte sie.
    Er war am Fenster stehengeblieben und blickte zum Sternenhimmel empor. «Immer dieselben Sterne», sagte er.
    «Wir reisen morgen früh», wiederholte sie. «Sind Sie auch bereit?»
    Er kam und setzte sich Regine gegenüber. «Warum geben Sie sich mit mir ab?»
    «Ich bin entschlossen, Sie zu heilen.»
    «Ich bin nicht krank.»
    «Sie weigern sich, zu leben.»
    Er sah sie mit kühlem Interesse an: «Sagen Sie, lieben Sie mich?»
    Sie begann zu lachen: «Das ist meine Sache».
    «Das dürfen Sie nämlich nicht», sagte er.
    «Ich brauche keinen Rat.»
    «Es ist aber ein ganz besonderer Fall», sagte er.
    Von oben herab erwiderte sie: «Ich weiß.»
    «Und was wissen Sie denn?» fragte er gedehnt.
    Sie hielt seinen Blicken stand: «Ich weiß, daß Sie aus einer Heilanstalt kommen und an Amnesie leiden.»
    Er lächelte. «Ach!»
    «Wieso, ach?»
    «Wenn ich das Glück hätte, mich nicht erinnern zu können   …»
    «Das Glück!» rief sie aus. «Man darf niemals seine Vergangenheit verleugnen.»
    «Wenn ich kein Erinnerungsvermögen hätte, wäre ich beinahe ein Mensch wie andere auch. Ich könnte Sie vielleicht lieben.»
    «Ich erlasse es Ihnen», sagte sie. «Sie können ganz beruhigt sein, ich liebe Sie nämlich nicht.»
    «Sie sind schön», sagte er. «Sie sehen, ich mache schnelle Fortschritte. Jetzt weiß ich schon, daß Sie schön sind.»
    Sie beugte sich zu ihm vor und legte ihre Hand auf sein Handgelenk: «Kommen Sie mit mir nach Paris.»
    Er zögerte. «Warum nicht?» erwiderte er ohne Freudigkeit. «Das Leben ist nun doch einmal wieder in Bewegung geraten.»
    «Und Sie bedauern es?»
    «Oh, ich bin nicht böse auf Sie. Auch ohne Sie wäre es eines Tages passiert. Einmal ist es mir gelungen, sechzig Jahre lang den Atem anzuhalten. Aber als Sie mich dann an der Schulter faßten   …»
    «Sechzig Jahre!»
    Er lächelte. «Sechzig Sekunden, wenn Sie wollen», sagte er. «Was liegt schon daran? Es gibt Augenblicke, in denen die Zeit stillsteht.» Er blickte lange auf seine Hände: «Augenblicke, in denen man jenseits des Lebens steht und alles übersieht. Und dann kommt die Zeit wieder in Gang, das Herz schlägt, man streckt die Hand aus, man setzt den Fuß wieder einen Schritt vor; man weiß dann noch, doch man sieht nicht mehr.»
    «Ja», sagte sie. «Man stellt fest, daß man in seinem Zimmer sitzt und sich die Haare kämmt.»
    «Man muß sich nun einmal kämmen. Alle Tage sogar.»
    Er beugte den Kopf, sein Gesicht verfiel. Eine lange Weile sah sie ihn schweigend an.
    «Sagen Sie, sind Sie lange in der Anstalt gewesen?»
    «Dreißig Jahre», sagte er.
    «Dreißig Jahre? Und wie alt sind Sie jetzt?»
    Er antwortete ihr
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