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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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mir zu reden haben, so reden Sie, aber beeilen Sie sich», sagte sie.
    Er blickte sie freundlich an.
    «Sie haben mich nach Paris kommen lassen», äußerte er dann. «Sie haben mir zugesetzt, ich solle mich wieder zum Leben aufraffen. Nun müssen Sie mir aber auch das Leben erträglich machen. Sie dürfen mich nicht drei Tage lang einfach sitzenlassen, ohne daß ich Sie sehe.»
    «Drei Tage ist nicht viel», sagte sie.
    «Für mich ist es viel. Bedenken Sie doch, daß ich nichts anderes zu tun habe, als auf Sie zu warten.»
    «Daran sind Sie selber schuld», antwortete sie. «Es gibt doch tausend Dinge, die man unternehmen kann. Ich kann mich doch nicht von morgens bis abends mit Ihnen beschäftigen.»
    «Sie haben es gewollt», sagte er. «Sie haben gewollt, daß ich Sie sehe. Alles übrige ist im Dunkeln geblieben. Aber Sie existieren, und in mir ist Leere.»
    «Soll ich jetzt den Auflauf in den Ofen schieben?» fragte Annie.
    «Wir essen gleich», sagte Regine. «Hören Sie», fuhr sie fort, «wir reden später über alles. Ich besuche Sie bald.»
    «Morgen», sagte er.
    «Ganz richtig, morgen schon.»
    «Um wieviel Uhr?»
    «Gegen drei.» Sie schob ihn sanft zur Tür.
    «Ich hätte Sie gern jetzt gesehen», sagte er. «Ich gehe.» Er lächelte: «Aber Sie müssen kommen.»
    «Ich komme», sagte sie.
    Hinter ihm schloß sie heftig die Tür.
    «Eine Frechheit! Er könnte doch wirklich auf mich warten! Wenn er wiederkommt, laß ihn nicht herein.»
    «Der Arme, er ist doch nicht richtig im Kopf», sagte Annie.
    «Er kommt mir gar nicht mehr so vor.»
    «Seine Augen sind sonderbar.»
    «Aber ich bin ja schließlich auch keine barmherzige Schwester», meinte Regine noch. Sie trat in den Salon und ging lächelnd auf Madame Laforêt zu. «Entschuldigen Sie mich», sagte sie. «Denken Sie nur, ich war einem Fakir in die Hände gefallen.»
    «Sie hätten ihn einladen sollen», sagte Dulac.
    Alles lachte.
     
    «Noch etwas Marc?» fragte Annie.
    «Gern.»
    Regine trank noch ein wenig Marc und rollte sich vor dem Feuer zusammen; sie fühlte sich warm, sie fühlte sich wohl. Das Radio spielte leise eine Jazzmelodie, Annie hatte eine Lampe angezündet und legte sich die Karten. Regine tat nichts; sie blickte in die Flamme hinein, sie schaute die Wände des Studios an, auf denen verzerrte Schatten tanzten, und fühlte sich glücklich dabei. Die Probe war sehr gut verlaufen; Laforêt, der mit Komplimenten gewöhnlich so geizig war, hatte sie lebhaft beglückwünscht;
‹Wie es euch gefällt›
würde ein Erfolg sein, und nach
‹Wie es euch gefällt›
war Großes zu erwarten. Ich bin jetzt nahe am Ziel, dachte sie und lächelte dabei. Wie oft, wenn sie zu Hause in Rosay vor dem Feuer lag, hatte sie sich geschworen: Ich werde geliebt werden und glücklich sein; sie hätte jetzt gern das leidenschaftliche kleine Mädchen von damals bei der Hand genommen, sie in dies Zimmer geführt und zur ihr gesagt: «Ich halte dein Versprechen. Das ist aus dir geworden.»
    «Es schellt», sagte Annie.
    «Geh nachsehen, wer es ist.»
    Annie lief in die Küche. Wenn sie dort auf einen Stuhl stieg, konnte sie durch ein kleines Fenster auf den Treppenflur schauen.
    «Es ist der Fakir.»
    «Ich ahnte so etwas. Mach nicht auf», sagte Regine.
    Die Schelle ertönte ein zweites Mal.
    «Er wird die ganze Nacht schellen», sagte Annie.
    «Schließlich wird er es müde werden.»
    Es trat Stille ein; dann folgte eine Serie von dringenden und langen Klingelzeichen, die schließlich wieder verstummten.
    «Du siehst, er ist fort», sagte Regine.
    Sie schlug die Zipfel ihres Morgenrocks über ihre Beine und knäuelte sich wieder auf dem Teppich zusammen. Aber das Schrillen der Klingel hatte genügt, um das Glück dieses Augenblicks doch ein wenig zu trüben. Die übrige Welt auf der anderen Seite der Tür hatte sich bemerkbar gemacht; Regine war nicht mehr allein mit sich selbst. Sie betrachtete den Lampenschirm aus Pergament, die japanischen Masken, alle die Sächelchen, die sie sich einzeln ausgesucht hatte und die ihr so viele köstliche Augenblicke ins Gedächtnis riefen; sie schwiegen, die Minuten waren verwelkt; diese jetzige würde wie die übrigen welken. Das kleine, glühende Mädchen war tot, die junge, lebenssüchtige Frau würde gleichfalls sterben, und die große Schauspielerin, die sie so gerne werden wollte, war auch dem Tode geweiht. Vielleicht würden die Männer sich noch eine Weile an ihren Namen erinnern. Aber der ganz bestimmte Geschmack
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