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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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Annie durch den leeren Korridor.
    Annie steckte den Schlüssel ins Schloß, und die Tür ging auf. Sie traten in ein Zimmer mit ländlichen Möbeln, die mit hellem Kretonne bezogen waren. Die Rolläden waren heruntergelassen, die Sonnenstores geschlossen.
    «Du bist sicher, daß dies sein Zimmer ist?» fragte Regine. «Es sieht so unbewohnt aus.»
    «Ich bin ganz sicher», bestätigte Annie.
    Regine drehte sich langsam um sich selbst. Man sah keine Spur einer menschlichen Gegenwart: kein Buch, kein Papier, kein Zigarrenstummel. Annie öffnete einen normannischen Schrank: er war leer.
    «Wo versteckt er seine Vorräte?» fragte Annie.
    «Vielleicht im Badezimmer», meinte Regine.
    Es war schon sein Zimmer. Über dem Waschbecken war ein Rasiermesser, ein Pinsel, eine Zahnbürste, Seife; das Rasiermesser sah wie alle anderen aus, die Seife war richtige Seife, es waren alles normale, ganz unverdächtige Dinge. Regine machte die Tür eines Wandschranks auf. Auf einem Brett lag reine Wäsche, und an einem Haken hing eine Flanelljacke. Sie griff in eine der Taschen hinein.
    «Jetzt wird es interessant», sagte sie.
    Sie zog die Hand heraus: es lagen lauter Goldstücke darin.
    «Lieber Gott!» rief Annie aus.
    In der anderen Tasche steckte ein Stück Papier. Es war eine Bescheinigung, ausgestellt von einer Heilanstalt an der unteren Seine. Der Mann litt an Gedächtnisschwund. Er behauptete, er heiße Raymond Fosca. Man kannte weder seinen Geburtsort noch sein Alter, und nach einem Aufenthalt in der Heilanstalt, über dessen Dauer nichts gesagt war, hatte man ihn vor vier Wochen entlassen.
    «Ach», meinte Annie in enttäuschtem Ton. «Dann hatte also Monsieur Roger doch recht. Er ist einfach verrückt.»
    «Natürlich ist er verrückt», sagte Regine. Sie tat das Papier an seinen Platz. «Ich wüßte gern, warum man ihn dort eingeliefert hat.»
    «Auf alle Fälle hat er nirgends Vorräte versteckt», sagte Annie. «Er ißt nicht.» Sie sah sich ratlos um: «Er ist vielleicht wirklich ein Fakir», sagte sie. «Auch Fakire können verrückt sein.»
     
    Regine ließ sich in einem Rohrstuhl neben dem unbeweglichen Mann nieder, und dann rief sie ihn an: «Raymond Fosca!»
    Er richtete sich auf. Er blickte Regine an.
    «Woher wissen Sie meinen Namen?» fragte er.
    «Ach! Ich zaubere ein bißchen», gab Regine zurück. «Das wird Sie ja nicht wundern, Sie sind ja auch ein Zauberer: Sie leben, ohne zu essen.»
    «Das wissen Sie auch?» fragte er.
    «Ich weiß viele Dinge.»
    Er ließ sich wieder zurücksinken. «Lassen Sie mich», sagte er, «und gehen Sie fort. Niemand hat das Recht, mich hierher zu verfolgen.»
    «Niemand verfolgt Sie», sagte sie. «Ich wohne seit einpaar Tagen in diesem Hotel und beobachte Sie. Ich wünschte, Sie teilten mir Ihr Geheimnis mit.»
    «Was für ein Geheimnis? Ich habe kein Geheimnis.»
    «Ich möchte, daß Sie mir sagen, wie Sie es machen, daß Sie sich nie langweilen.»
    Er antwortete nicht. Er hatte die Augen geschlossen.
    Wieder rief sie ihn leise an: «Raymond Fosca! Hören Sie mich?»
    «Ja», sagte er.
    «Ich nämlich langweile mich», sagte sie.
    «Wie alt sind Sie?» fragte Fosca.
    «Achtundzwanzig Jahre.»
    «Da haben Sie höchstens noch fünfzig Jahre zu leben», sagte er. «Das geht doch schnell vorbei.»
    Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und schüttelte ihn heftig: «Was», rief sie aus, «Sie sind jung, Sie sind stark, und dabei leben Sie, als wenn Sie ein Toter wären!»
    «Ich habe nichts Besseres zu tun», sagte er.
    «Dann sehen Sie sich danach um», sagte sie. «Wollen wir es gemeinsam tun?»
    «Nein.»
    «Sie sagen nein, ohne mich überhaupt eines Blickes gewürdigt zu haben. Sehen Sie mich doch mal an.»
    «Es lohnt sich nicht», antwortete er. «Ich habe Sie schon hundertmal gesehen.»
    «Doch von weitem nur   …»
    «Von weitem und in der Nähe!»
    «Wann denn?»
    «Zu allen Zeiten», sagte er, «überall.»
    «Aber das war doch ich nicht», sagte sie. Sie beugte sich zu ihm: «Sie müssen mich unbedingt ansehen. Sagen Sie jetzt, haben Sie mich schon jemals gesehen?»
    «Vielleicht nicht», sagte er.
    «Das wußte ich doch.»
    «Um der Liebe Gottes willen, gehen Sie fort», sagte er. «Gehen Sie fort, sonst fängt alles wieder von vorne an.»
    «Und wenn alles wieder von vorn anfinge?» sagte sie.
     
    «Du willst diesen Narren wirklich nach Paris mitnehmen?» fragte Roger.
    «Ja, ich will ihn heilen», sagte Regine.
    Sorgfältig bettete sie ihr Kleid aus schwarzem
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