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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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wenn man bös zum Vergnügen war! Sie würden nie verstehen, auch Roger verstand sie nicht. Sie waren gleichgültig, oberflächlich; sie spürten nicht in der Brust dieses tödliche Brennen. Ich bin nicht von ihrer Art. Sie ging rascher zu, durch eine enge Gasse, in der ein Wassergraben floß; zwei kleine Buben jagten einander und verfolgten sich lachend in einen Abtritt hinein, ein kleines Mädchen mit krausem Haar spielte Ball gegen eine Hauswand. Niemand achtete auf sie: eine Vorübergehende. Wie können sie sich nur abfinden? fragte sie sich. Ich finde mich niemals ab. Eine Blutwelle stieg ihr ins Gesicht. Jetzt wußte es Flora schon, und heute abend im Theater würden es alle erfahren. Auf dem Grund ihrer Augen würde sie ihr Bild erkennen: neidisch, treulos, von kleinlichem Haß erfüllt. Jetzt haben sie ein Übergewicht über mich, und mit welcher Wonne werden sie mich verachten. Selbst an Roger hatte sie keinen Halt mehr. Er starrte sie mit trostlosen Blicken an: treulos, neidisch und böse.
    Sie setzte sich auf eine steinerne Fassung des kleinen Wasserlaufs; in einem der elenden Häuser kratzte eine Geige; sie hätte einschlafen und viel, viel später, weit von hier, wieder aufwachen mögen; lange saß sie unbeweglich da; plötzlich spürte sie Tropfen auf der Stirn und sah, wie die Oberfläche des Wassers sich zu kräuseln begann; es regnete. Sie nahm ihre Wanderung wieder auf. Sie wollte mit ihrengeröteten Augen nicht in ein Café treten, sie wollte nie wieder zurück ins Hotel.
    Die Straße mündete auf einen Platz, auf dem eine kalte gotische Kirche stand; in ihrer Kindheit hatte sie Kirchen geliebt, und an ihrer Kindheit hing sie sehr; sie trat in die Kirche ein. Sie kniete vor den Hauptaltar und legte den Kopf in die Hände. «Mein Gott, der Du auf den Grund meines Herzens blickst   …» Oftmals hatte sie früher so gebetet in den Tagen der Herzensnot; und Gott las in ihr, er gab ihr immer recht; in jenen Zeiten träumte sie davon, eine Heilige zu werden, sie schlief nachts auf dem platten Boden. Aber es gab im Himmel schon zu viele Erwählte, zu viele Heilige. Gott liebte alle Menschen, sie mochte sich nicht mit diesem allumfassenden Wohlwollen begnügen; so hatte sie aufgehört, an einen Gott zu glauben. Ich brauche ihn nicht, dachte sie und hob den Kopf empor. Getadelt, verfemt, verpönt – was macht das alles aus, wenn ich mir selber treu geblieben bin? Ich bleibe mir selber treu, ich lasse mich selbst nicht im Stich. Ich werde sie zwingen, mich so leidenschaftlich zu bewundern, daß jede meiner Gesten ihnen heilig ist. Eines Tages werde ich um meine Stirn einen Glorienschein spüren.
    Sie schritt aus der Kirche und winkte ein Auto herbei. Es regnete immer noch, und in ihrem Herzen war eine große, friedliche Kühle. Sie hatte die Scham überwunden. Ich bin allein, ich bin stark, dachte sie, und ich habe getan, was ich wollte. Ich habe bewiesen, daß ihre Liebe nur eine Lüge war, ich habe Flora meine Existenz zum Bewußtsein gebracht. Mögen sie mich verachten, mich niederträchtig finden: gewonnen habe ich doch.
    Als sie durch die Hotelhalle schritt, war es fast dunkel geworden. Sie trat ihre nassen Schuhe an der Strohmatte ab und warf einen Blick durch die Scheiben; der Regen klatschte schräg auf die Rasenfläche und die Kieswege nieder; der Mann lag immer noch auf seinem Deckstuhl, er hatte sichnicht gerührt. Regine wendete sich an das Zimmermädchen, das gerade einen Stoß Teller in den Speisesaal trug.
    «Haben Sie gesehen, Blanche?»
    «Was?» fragte das Mädchen.
    «Einer Ihrer Gäste ist da draußen im Regen eingeschlafen. Er wird sich eine Lungenentzündung holen. Man sollte ihn hereinschaffen.»
    «Ach der», sagte Blanche. «Versuchen Sie doch mal, mit dem ein Wort zu reden. Es ist, als wäre er taub. Ich habe ihn am Arm geschüttelt, es war mir nur um den Stuhl, der geht ja kaputt bei der Nässe   … Er hat mich nicht einmal angeguckt.» Sie schüttelte ihren rotblonden Schopf und setzte noch hinzu: «Das ist ein Phänomen   …»
    Sie hatte Lust, weiterzuschwatzen, aber Regine hatte keine Lust, ihr länger zuzuhören. Sie stieß die Tür zum Garten auf und näherte sich dem Mann.
    «Sie sollten hereinkommen», sagte sie sanft. «Merken Sie nicht, daß es regnet?»
    Er wendete den Kopf, sah sie an, und diesmal wußte sie, daß er sie wirklich sah.
    «Sie müssen ins Haus kommen», wiederholte sie.
    Er blickte zu dem dunklen Himmel auf und dann zu Regine hin; seine Lider
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