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Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel

Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel

Titel: Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
Autoren: Ann Benson
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Er beschirmte seine Augen vor der blendenden Helle und ging um eine Ecke zum Gemeindebrunnen.
    Zu seiner Bestürzung sah er ihn umringt von Christenfrauen, die frisches Wasser für ihre Krüge und neuen Klatsch einholten, um ihre Zungen daran zu wetzen. Ein kleines Dach beschattete den Brunnen und verschaffte denen, die unter ihm versammelt waren, eine gewisse Linderung der lähmenden Hitze. Alejandro stand im Hintergrund im vollen Sonnenlicht und wartete, bis er an die Reihe kam, wobei er eine schwache, aber erfolglose Anstrengung unternahm, seine Ungeduld zu verbergen. Als sie bemerkten, wie er von einem Fuß auf den anderen trat, gingen die Frauen nur widerwil- lig beiseite, da sie ihren eigenen schattigen Aufenthalt am Brunnen gern verlängern wollten, ehe sie zu ihren häuslichen Pflichten zurückkehrten.
    Er hängte einen der Eimer an den Haken und ließ ihn in den Brunnen hinunter. Wie kühl hörte sich das Plätschern an, als der Eimer tief unten das Wasser traf; wie stechend war der Schmerz in seinen Schultern, als er den Eimer, der nun voll und schwer war, wieder hochzog. Ich sollte den Jungen wecken, dachte er; solche Pflichten sind seine Sache, nicht meine ! Dann erinnerte er sich an die verletzte Hand seines Lehrlings und beschloß, ihn schlafen zu lassen, bis er seine Hilfe bei der schwierigeren Obduktion brauchte. Alejandro verfluchte das Pech, das zu dem Splitter geführt hatte, und taumelte unter Schmerzen zu seinem Haus zurück, schwankend unter der Last der wassergefüllten Eimer. Als er wieder zum Brunnen zurückkehrte, hatte er nur noch einen Eimer bei sich; er wiederholte diese Gänge, bis das große Becken in seinem Operationszimmer ganz voll war.
    Er war erleichtert, als er fertig war, denn er fürchtete die neugierigen Augen der Christenfrauen. Jedesmal, wenn er zum Brunnen zurückkam, versuchte ein junges Mädchen in grobem Kleid seinen Blick zu erhaschen, und jedesmal wich er ihren Augen aus, da er ihren Vorwitz nicht ermutigen wollte. Sie starrte ihn verführerisch an und zeigte unmißverständlich Interesse an ihm. Er nahm ihre Aufmerksamkeit nicht zur Kenntnis und erwiderte ihr kokettes Lächeln nicht. Er hoffte, sie würde ihre schweigenden, aber offenkundigen Avancen aufgeben, wenn er sie ignorierte.
    Alejandro konnte nicht wissen, daß er in seiner europäisch anmutenden Kleidung den Angehörigen des anderen Geschlechts möglicherweise anziehend erschien; in seinem eigenen Volk wurde physische Schönheit nicht unbedingt als Vorzug angesehen, und er beachtete die seinige kaum. Aber er war groß gewachsen und muskulös trotz seiner drahtigen Schlankheit, hatte ein gut geschnittenes, kantiges Gesicht und glatte, olivfarbene Haut. Sein Gesicht war freundlich, doch sein Ausdruck gewöhnlich ernst und nachdenklich; selten lächelte oder lachte er aus vollem Herzen, denn gewöhnlich war er zu sehr damit beschäftigt, über irgendein gewichtiges medizinisches Geheimnis nachzugrübeln. Wenn er aber lächelte, dann stand in seinen bernsteinfarbenen Augen ein leuchtendes Funkeln, denn nur, wenn er wirklich glücklich war, gab er seine düstere Beherrschung auf; der Kontrast war immer verblüffend, sogar für die, die ihn gut kannten. Von diesen Vertrauten gab es allerdings nicht viele, denn er war schüchtern und blieb für sich, außer, wenn er seinem Beruf nachging. Er war die Art von geheimnisvollem und rätselhaftem Mann, der ein junges Mädchen anziehen mochte, dem die Raffinesse fehlte, seine feineren Eigenschaften zu schätzen. Seine Unschuld und sein Mangel an Erfahrung waren so groß, daß er nicht begriff, welchen Eindruck er machte. Er merkte nicht, wie das Mädchen am Brunnen verstohlen mit einer seiner Gefährtinnen zu flüstern begann; es hatte ihn trotz seiner ungewöhnlichen Aufmachung erkannt und war neugierig.
    Sicher in seinen Operationsraum zurückgekehrt, fing er an, sich auf die wenig angenehme Aufgabe vorzubereiten, die ihn erwartete, die Obduktion des Leichnams von Carlos Alderon. Sie würde entweder seinen Verdacht bestätigen, daß der Ursprung von Carlos’ Krankheit nicht das vermutete Ungleichgewicht zwischen seinen Lungen und seinem Herzen war, sondern etwas, das man genauer erkennen und sehen konnte, oder sie würde eine Fülle neuer Fragen aufwerfen. Er empfand gleichzeitig Abscheu vor der Verwesung, die er vor sich sehen würde, und Erregung bei dem Gedanken an mögliche Entdeckungen; nicht oft hatte er eine solche Gelegenheit, etwas zu lernen. Während seiner
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