Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran
Autoren: Jean-Claude Izzo
Vom Netzwerk:
angelte sich einen Stuhl und setzte sich an den Tisch. »Ich wusste nicht, dass du dich für Kartografie begeisterst?«
    »Du weißt nichts von mir, Abdul. Und andersrum ist es genauso. Wie lange kennen wir uns? Zehn Jahre? Über unsere Mannschaft weiß ich mehr.«
    »Du bist auch nicht gerade gesprächig.«
    »Wenn es mir schlecht geht, wenn ich Zweifel habe, vertiefe ich mich in die Kartografie.«
    Diamantis zeigte auf die Karte. »Mir wird deutlich, dass das, was einmal Wahrheit war, heute Lüge ist. Dass die Wahrheit immer relativ ist.«
    »Das musst du mir erklären.« Abdul holte eine Schachtel Zigarillos aus der Tasche und steckte sich eine an, ohne Diamantis davon anzubieten.
    »Es ist ganz einfach, Abdul. Was machen wir hier, wir beide, auf diesem verdammten Frachter? Du und ich, wir hätten abhauen können. Du hast bestimmt deine Erklärung dafür. Ich hab auch eine. Aber in Wirklichkeit wissen wir sehr wohl, du so gut wie ich, dass wir uns was vormachen. Das sind alles nur Lügen. Die Wahrheit ist, dass wir nicht heimkehren wollen.«
    »Oder nicht können«, gab Abdul zurück.
    Diamantis sah auf. Ihre Blicke begegneten sich. Abdul sagte sich, dass er mit dieser Bemerkung ins Schwarze getroffen hatte. Irgendetwas hielt Diamantis davon ab, zurückzukehren. So erklärte er sich, dass er nicht mit den anderen abgehauen war.
    »Das läuft aufs Gleiche hinaus. Ich glaube, dass das, was wir Wahrheit nennen, einfach die Ehrlichkeit ist, mit der wir unsere Situation akzeptieren. Und es ist immer eine Lüge, sobald wir Leben, Liebe oder Geschichte groß schreiben. Oder nicht?«
    Abdul beugte sich über die Karte. Er hatte jetzt keine Lust zu antworten. Das hätte zwangsläufig bedeutet, über sich zu sprechen, über Céphée, über ihr gemeinsames Leben, das zerfiel. Abdul hatte Diamantis zwingen wollen, die Maske fallen zu lassen, aber Diamantis hatte den Spieß umgedreht.
    Ihre Blicke trafen sich wieder, und sie beschlossen, es für den Moment dabei zu belassen. An dem Punkt, an dem sie angekommen waren, würden sie ohnehin noch lange bleiben.
    »Diese Karte«, erklärte Diamantis, »ist die Tabula Peutingeriana, eine römische Landkarte aus dem 3. Jahrhundert, hier ist Rom, in der Mitte.«
    »Sie ist großartig.«
    »Mein Vater hat sie mir geschenkt, einige Monate vor seinem Tod. Er hat sie in einer Opiumhöhle in Shantou von einem italienischen Seemann gekauft, der dringend Geld brauchte. Das war 1954, glaube ich. Aber ich erinnere mich an seine Heimkehr. Er hatte die Karte auf dem Tisch ausgebreitet wie einen Schatz, dann hat er mich auf den Schoß genommen und mir eine fabelhafte Geschichte erzählt. Ich war vier Jahre alt, ich verstand kein Wort von seiner Geschichte, aber sie klang wunderschön. Jedes Mal, wenn er nach Hause kam, begann er erneut. Mit mir auf seinem Schoß. So hatte ich mit zwölf verstanden, dass nur die Kartografie Meer und Land bis ins Kleinste hinterfragt. Das heißt, die Welt und unsere Sicht der Welt. Verstehst du?«
    »Ja, ja. Voll und ganz.«
    »Ich glaube, ich wäre gern Kartograf geworden. Oder Geograf. Aber … Seemann ist im Grunde das Gleiche. Auf jeder Reise zeichnet man die Welt neu. So sehe ich das.«
    Abdul war begeistert, und während er Diamantis zuhörte, hatte er das Bild vor sich: der Junge und sein Vater. »Dein Vater war 1954 in China?«
    »Ja, an Bord eines verrotteten Frachters. Noch schlimmer als unserer. Uralt, völlig aus den Fugen, nicht mal mit Funk. Ich habe nie erfahren, wie er hieß. Mein Vater nannte ihn Cafard, Küchenschabe. Einer von diesen Kähnen, die auf dem Schrottplatz verkauft werden. Griechische Reeder hatten ihn in Rotterdam für nichts erstanden. Sie ließen solche Schiffe noch jahrelang fahren. Das Risiko und die Gefahren gingen natürlich zulasten der Mannschaft. Die Cafard transportierte Kriegsmaterial. Als sie in Shantou ankamen, hatten die Kommunisten gerade die Macht übernommen. Von dem bombardierten Hafen war nichts übrig geblieben. Nur ein paar Opiumhöhlen.«
    »Was haben sie mit dem Material gemacht? Haben sie es den Kommunisten ausgeliefert?«
    »Keine Ahnung. Ich glaube, das hätte wohl auch nichts mehr geändert. Warum?«
    »Nur so. Reine Neugier.«
    »Weiter nichts?«
    »Nein. Aber … Ich hab mich oft gefragt, ob es nicht gerade diese kleinen Nichtigkeiten waren, die den Lauf der Geschichte geändert haben.«
    »Die Geschichte vielleicht. Nicht ihren Lauf.«
     
    Die Dunkelheit war hereingebrochen und hüllte den Frachter ein.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher