Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran
Autoren: Jean-Claude Izzo
Vom Netzwerk:
kyrenäischen Halbinsel. Herakleia und Theodosia, auf der Krim, die nur über Land zu erreichen sind. Gorgippia und Germanossa, in der Nähe der Meeresstraße, die ins Asowsche Meer führt, das alte Himera an der Küste Siziliens. Und Kythera, die südlichste der Ionischen Inseln. Kythera …«
    Diamantis holte Luft. Er leerte den Rest Whisky in einem Zug und schnalzte mit der Zunge. »Ein bisschen knapp, die Vorräte!«
    »Gönnen wir uns morgen einen, einverstanden. Die Abende werden noch lang.«
    »Schon. Aber wir haben trotz allem keinen Treueschwur geleistet!«
    »Erzähl keinen Blödsinn, mach weiter.«
    »Aber mit dem Whisky bin ich einverstanden. Ich kümmer mich drum. Ich müsste welchen zum Einkaufspreis bekommen.«
    »Das Meer«, fuhr Diamantis fort, »entdeckt man nie allein, und man sieht es nicht nur mit eigenen Augen.« Das hatte sein Vater ihm beigebracht. »Man betrachtet es so, wie die anderen es gesehen haben, mit den Bildern und Geschichten im Kopf, die sie uns überliefert haben. So habe ich das Meer erfahren. Auf seinem Schoß. So hab ich auch Geschichte und Geografie gelernt. Und so hat die Literatur einen Sinn für mich bekommen. Jedenfalls solche, die von Meeren zu berichten weiß, in denen wir niemals baden können, und von Häfen, deren Mädchen wir niemals küssen werden. Und von Ländern, die den menschlichen Wahnsinn überleben werden.«
    »Du bist ein echter Philosoph, Diamantis.«
    »Ich liebe das Meer, das ist alles. Man sieht das Land anders, und die Menschen auch.«
    »Ich wette, du kannst Gedichte auswendig.«
    »Gewonnen«, lachte Diamantis. »Auf die Art hab ich sogar meine Frau verführt.« Er dachte einen Moment nach, dann begann er zu rezitieren:
     
    Sei gegrüßt, Kapitän!
    Seid gegrüßt ihr Alten – was macht ihr da?
    Zählt ihr die Sterne und Schiffe, die vorüberziehen?
    Schwatzt ihr hellseherisch mit dem Mond?
    Nein, weder Sterne noch Schiffe – sie sind untergegangen;
    noch der Mond – er ist verdunkelt;
    wir verabschieden uns nur von der Welt, Kapitän.
     
    »Jannis Ritsos. Ein Dichter aus meiner Heimat. Heute kennt keiner mehr seinen Namen. Oder fast keiner. Die Obristen hatten ihn auf die Insel Leros verbannt. Weil er Kommunist war, glaub ich. Dieser Abschaum hat die Inseln in Konzentrationslager verwandelt. Ritsos zu rezitieren, war gleichbedeutend mit Widerstand gegen die Diktatur.«
    »Warst du im Widerstand?«
    »Ich habe Melina Gedichte rezitiert!«
    Eine Art, nicht zu antworten, natürlich. Die Zeit lag weit zurück. Er hatte beschlossen, sie zu vergessen. Wie alle, die unter der Diktatur gelitten hatten und gedemütigt worden waren. Aber jene Jahre blieben wie eine schlecht verheilte Narbe. Sie blutete immer noch gelegentlich.
    Warum hatte er Ritsos zitieren müssen? Was war in ihn gefahren? Erinnerungen schlummern einfach vor sich hin. Bereit, eine günstige Gelegenheit zu ergreifen und aufzuflammen. Um uns in verlorene Welten zu ziehen. Erinnerungen, die schönsten und unbedeutendsten, sind die versäumten Augenblicke des Lebens. Zeugen unserer nicht zu Ende gebrachten Taten. Sie tauchen wieder auf, um eine Vollendung zu finden. Oder eine Erklärung. Diamantis war eine leichte Beute für sie.
    Melina hatte geweint.
    Die Armee hatte ihren Literaturlehrer Costa Staikos festgenommen. Dieser Mann hatte ihnen im vorigen Sommer Patmos offenbart. Die Insel, auf der eine der prachtvollsten Bibliotheken des Orients Zuflucht gefunden hat. Die Bibliothek im Sankt-Johannes-Kloster. Dort war das älteste Manuskript von Piatons Dialogen verwahrt worden, bis der englische Reisende Daniel Clarke es 1801 mitgehen ließ. Es war zweifellos dieser Besuch, der Melina auf das Studium byzantinischer Schriftstücke gebracht hatte.
    Staikos war ein Freund von Ritsos, er teilte seine Gedanken und zitierte ihn häufig in seinen Unterrichtsstunden. Er wurde denunziert. Fünf Männer kamen mitten im Unterricht hereingestürmt und ließen Schläge auf Staikos herabsausen. Vor den Augen der Schüler. Dann zerrten sie ihn aus der Klasse, wie einen Schwerverbrecher. Ein Militär, ein alter Offizier, hielt ihnen anschließend eine Moralpredigt. Über die Mission, die sie in Griechenland zu erfüllen hatten. Einige Schüler klatschten Beifall. Melina brach in diesem Augenblick in Tränen aus.
    Der Offizier ging auf sie zu. Und ohrfeigte sie. Mit voller Kraft.
    Diamantis brachte Melina nach Hause. Sie sprachen auf dem ganzen Weg kein Wort.
    »Wo hebt dein Vater seine Munition auf?«
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher