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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran
Autoren: Jean-Claude Izzo
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angerufen.
    Ihr Vater Mamoudi hatte sie zum Flughafen begleitet. Er hatte ihr beigepflichtet. Es war richtig, dass sie runterfuhr. Abdul war sein Freund. »Ein guter Gatte, ein guter Ehemann …«
    »Und ein guter Liebhaber«, hatte Céphée lachend hinzugefügt. Ja, sie liebte Abdul.
     
    Ein Taxi brachte Céphée direkt zum Haupttor des Freihafens. Das Taxi hatte die Küstenschnellstraße genommen. Sie fuhren hoch auf einem Viadukt am Hafen entlang. Mit den Blicken suchte sie ein Schiff, das aussah wie die Aldebaran, konnte aber keins entdecken. Dann betrachtete sie die Stadt, die auf sie zukam. Sie war wie geblendet. Warum war sie nie hierher gekommen? Warum erst heute? Allmählich freute sie sich auf ihren Aufenthalt in Marseille. Abdul, er, der so gut erzählen konnte, würde es verstehen, sie ihr zu offenbaren.
    Sie erkundigte sich bei den Hafenbehörden, wo die Aldebaran lag. Man schickte sie von Büro zu Büro. Schließlich stellte sich ihr ein junger Angestellter vor. Er führte sie in ein kleines Zimmer, bat sie, Platz zu nehmen, bot ihr eine Tasse Kaffee an – die sie ablehnte – und berichtete dann über die Ereignisse der letzten Nacht, über die Verhaftung des Kapitäns Abdul Aziz, infolge einer Schlägerei zum Mörder eines Besatzungsmitglieds geworden, eines jungen Türken, dessen Namen er vergessen hatte. Der Funker.
    Mit »tiefstem Bedauern, wirklich« schickte er Céphée zur Polizei.
    Auf dem Revier erfuhr sie, dass ihr Mann früh am Morgen ins Gefängnis von Baumettes überführt worden war und sie keine Chance hatte, heute noch mit ihm zu sprechen. Abdul hatte gestanden. Man gab ihr Name, Adresse und Telefonnummer des Pflichtverteidigers ihres Mannes und erklärte ihr, dass sie sich selbstverständlich einen anderen Anwalt suchen konnte. Im Büro der Anwaltskammer im Justizpalast war eine Liste einzusehen.
    Céphée fragte diesen Polizeibeamten, ob der Erste Offizier des Schiffes, ein gewisser Diamantis, noch in Marseille war. Ja, er war noch da. Er durfte die Stadt noch nicht verlassen. Der Polizist gab ihr die Adresse, die Diamantis ihnen genannt hatte.
    Benommen ging sie hinaus. Dort blieb sie lange unschlüssig in der Sonne stehen. Sie steckte sich eine Zigarette an und ging nachdenklich ein paar Schritte in der Rue de l’Evêché. Das Ganze kam ihr so unwirklich vor. Ein Albtraum, aus dem sie bald erwachen würde. Sie verbrannte sich die Finger an der Zigarette. Da begriff sie, dass sie nicht schlief. Dass Abdul einen Menschen umgebracht hatte, dass er im Gefängnis saß und dass sie allein war, hier in Marseille.
    Sie landete auf einer pulsierenden Hauptverkehrsader, dem Boulevard des Dames. Sie war erhitzt und durstig, wagte aber nicht, in eine Bar zu gehen oder sich auch nur auf eine Terrasse zu setzen. Es kam ihr so vor, als würde sie von allen Seiten angestarrt. Von Männern mit unanständigen Blicken. Eine bleischwere Müdigkeit überkam sie. Es gab nichts mehr zu überlegen oder zu besprechen. Das Leben hatte für sie entschieden. Abdul hatte seine längste Reise angetreten. Diesmal ohne sie um ihre Meinung zu fragen, ohne sie auch nur zu warnen.
    Die Zeit würde lang werden ohne ihn. Sie wusste nicht, was sie mit den Tagen, Monaten, Jahren anfangen sollte, die folgen würden. Jetzt schwamm sie in Ungewissheit.
     
    Céphée winkte ein Taxi heran und bat den Fahrer, sie zur Place des Moulins zu fahren. Der Taxifahrer schimpfte, weil das eine kurze Strecke war. Sie hätte zu Fuß hingehen können. Sie entschuldigte sich, sie kannte Marseille nicht, war eben erst angekommen.
    Der Chauffeur fuhr sie trotzdem. Aber er nahm die entgegengesetzte Richtung. Er chauffierte sie durchs alte Viertel. Eine weite Fahrt. Über die Place de Lenche, die Rue Caisserie, die Rue Méry, die Rue de la République und die Rue François-Moisson. Bis fast zu der Stelle, wo er Céphée eine Viertelstunde zuvor aufgenommen hatte. Sie hatte das Gefühl, im Kreis gefahren zu sein, sagte aber nichts.
    Sie hoffte nur, dass Diamantis da sein würde. Sie hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen, der ihr freundschaftlich zuhören würde. Sie brauchte jetzt jemanden. Ihr Herz würde sonst zerspringen. Abduls Briefen nach zu urteilen, war Diamantis sein Freund. Er hatte von diesem geheimnisvollen, zurückhaltenden Mann geschrieben. Sie brauchte einen Freund jetzt mehr als alles andere.
    Die Fahrt kostete sie siebzig Francs. Sie zahlte wortlos, gab keinen Centime Trinkgeld und knallte die Tür hinter sich
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