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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran
Autoren: Jean-Claude Izzo
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ging hoch. Der Wächter kam nicht heraus und sah Lalla nicht, die auf dem Rücksitz ausgestreckt lag.
    Diamantis fuhr um den Wachposten herum und parkte an einer vor Blicken geschützten Stelle hinter einem Lagerschuppen. »Warte hier auf mich«, sagte er zu Lalla und stieg aus dem Wagen.
    »Wo ist Amina?«, fragte sie.
    »Ich geh telefonieren«, antwortete er.
    Eine verschlafene Stimme meldete sich. Eine weiche, warme Stimme. Aus einer anderen Welt.
    »Ja«, sagte Mariette.
    Er sprach so leise wie möglich. Damit der Wachmann ihn nicht hören konnte. »Hier ist Diamantis. Komm schnell. Kannst du?«
    Der Wachmann stellte das Radio an. Musik erfüllte den Raum. Ein Lied von Léo Ferré.
     
    Unter deinem Pulli bist du ganz nackt
    Die ganze Straße ist verrückt
    Hübsches Kind …
    »Mariette … Ich bitte dich.«
    »Wo bist du?«
    »Wo wir uns getrennt haben.«
    Er hätte Mariette nie verlassen dürfen. Nichts wäre passiert. All diese Toten. All diese Dramen … Er war für alles verantwortlich. Sein Starrsinn … Mariette, Hilfe.
    Tränen rannen ihm über die Wangen. Er drehte sich um. Damit der Wachmann ihn nicht sehen konnte.
    »Mariette. Komm.«
    »Bin schon unterwegs.«
    Sie brauchte knapp zehn Minuten. Er hatte wortlos zwei Zigaretten mit Lalla geraucht. Lalla hatte ihn nur erneut gefragt, wo Amina war. Ein einziges Mal.
    »Später«, hatte er gesagt. »Später, einverstanden?«
    Mariette parkte ihren Wagen neben ihnen. Sie trug eine weite weiße Hose und ein hellblaues T-Shirt. Sie sah nicht aus wie gerade aus dem Bett geholt. Ihr Lächeln war immer noch genauso schön. Genauso gut. Diamantis nahm sie in die Arme. Er heulte.
    »Was ist passiert?«
    »Ich habe …« Nein, er konnte nicht von all dem anfangen. Nicht jetzt. »Es ist zu viel, Mariette. Auf dem Schiff liegt ein Toter. Nedim. Ein Seemann. Ich …«
    »Wer ist das?«, fragte Mariette.
    Lalla stand hinter Diamantis, mit vor der Brust verschränkten Armen und gesenktem Kopf.
    Diamantis machte sich von Mariette los und legte seinen Arm um Lallas Schultern. »Das ist meine Tochter«, sagte er. »Nimm sie mit. Pass auf sie auf.« Er schluchzte jetzt hemmungslos.
    Lalla sah ihn verständnislos an. Sie hörte, begriff aber nicht. Nichts. Worte. »Meine Tochter.«
    »Meine Tochter«, wiederholte sie.
    Nein, sie verstand nicht. Seine Tochter.
    »Komm«, sagte Mariette. »Wir fahren zu mir.«
    »Zu dir?« Sie konnte nur jedes Wort wiederholen. Sonst nichts. Ihr Kopf drohte zu platzen. Durchgeknallt. Sie verlor den Verstand.
    »Du wirst dich ausruhen, schlafen.«
    »Schlafen. Und Amina?«
    Mariette schaute Diamantis an. Er versuchte nicht, seine Tränen zurückzuhalten oder sie abzuwischen.
    »Später, Lalla.«
    »Ja, später.«
    Mariette schlug die Tür auf Lallas Seite zu und setzte sich ans Steuer.
    »Ich komme später nach.«
    »Später«, echote Lalla.
    Mariette strich über Diamantis’ nasse Wange, zog seinen Kopf zu sich und küsste ihn auf den Mund. »Ich passe auf sie auf«, versprach sie. »Und ich denke an dich.«
    Sie fuhr los.
    Diamantis atmete tief durch und ging dann Richtung Kontrollposten. Der Wachmann sah auf. »Ah! Sie sind es. Stimmt was nicht?«
    Diamantis schüttelte den Kopf, nahm den Telefonhörer ab und rief die Polizei an.
     
    Abdul hockte mit hängenden Schultern auf seiner Koje, die Hände im Schoß gefaltet. Seine Offiziersuniform sah fürchterlich aus, war stellenweise zerrissen. Sein Anblick war erbärmlich. Als Diamantis eintrat, hob er den Kopf.
    »Wir werden es als Unfall darstellen. Einverstanden, Abdul? Ein Unfall.«
    »Hast du die Polizei angerufen?«, fragte er mit ausdrucksloser Stimme.
    »Ja.«
    »Gut. Das ist gut.« Er war wieder völlig nüchtern. Aber in seinen Augen leuchtete noch ein seltsamer Glanz. Er schien Diamantis nicht wahrzunehmen. Als schaute er durch ihn durch. Nur in der Tiefe seines Blicks hielt sich ein merkwürdiges Glimmen.
    Er ist verrückt, er ist verrückt geworden, dachte Diamantis. »Hörst du mir zu, Abdul? Wir werden sagen, dass es ein Unfall war. Hast du verstanden? Ein Unfall.«
    »Ich habe ihn umgebracht«, sagte Abdul ohne die leiseste Gefühlsregung.
    »Ein Unfall.«
    »Er hatte was dagegen, dass ich mit der Schlampe schlafe. Wollte sie ganz für sich. Nur für sich allein. Warum, frag ich dich?«
    »Ich glaube, sie hatte sich in ihn verguckt.«
    »Glaubst du?«
    »Ich bin mir sicher, Abdul.«
    »Aber sie war nur eine Nutte. Wie Hélène und die andere. Wie hieß sie noch, die
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