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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran
Autoren: Jean-Claude Izzo
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Kaldirim. Er war mit seinen Freunden zu den Nutten gegangen. Zur Feier ihrer sechzehn Jahre. Dann hatte er sie in der dichten Menge aus den Augen verloren. Brechreiz krempelte ihm den Bauch um. Für zehn Pfund hatte er mit einer Frau mit mageren Beinen, vorstehenden Rippen und flachen Brüsten geschlafen. Grauenhaft. Scham und Ekel. Ein junger Typ, ein kleiner Ganove aus dem Junkie-Viertel Tophane hatte ihn überfallen und versucht, ihm das bisschen wegzunehmen, das er bei sich trug. Sie hatten sich auf dem Boden gewälzt, mitten zwischen den dreckigen, schlammigen ausgelatschten Schuhen von hunderten von Typen, die auf der Suche nach der am wenigsten heruntergekommenen Nutte der Straße waren. Sie schlugen sich, und niemand mischte sich ein. Er war nie ein großer Kämpfer gewesen. Das mochte er nicht. Er hatte Angst davor …
    Er bekam wirklich keine Luft mehr.
    »Also, du Angeber, du lässt sie mir.«
    Nedim versuchte immer noch, Abdul mit den Armen zurückzustoßen. Verdammt, er sollte auch Liegestütze machen. Zum Teufel auch, er war jung, und dieser durchgeknallte Alte verpasste ihm eine volle Packung. Er spannte seine Muskeln und stieß Abdul mit aller Kraft von sich. Es klappte. Abdul rollte auf die Seite. Mit einem Satz war Nedim auf den Füßen. Abdul kam schnell wieder hoch. Sie standen sich mit geballten Fäusten gegenüber.
    Nedim zur Verteidigung gerüstet. Abdul bereit zum Angriff.
     
    Diamantis weckte erneut den Wachmann, damit der ihm die Schranke öffnete.
    »Du meine Güte, ihr habt vielleicht Hummeln unterm Hintern heute Abend.«
    Diamantis antwortete nicht. Er war fix und fertig. Während der Fahrt hatte er an nichts gedacht. Weder an die tote Amina. Noch an Ricardo, den er getötet hatte. Er verspürte weder Kummer noch Reue. Er hatte einen Kerl umgebracht. Einen Mistkerl. Er hatte ein Stück Scheiße beseitigt. Das allein beherrschte seine Gedanken, während er fuhr. Automatisch: erster Gang, zweiter Gang. Rote Ampel, bremsen. Grüne Ampel, wieder die Kupplung, anfahren. Auf die Geschwindigkeitsbegrenzung achten. Nicht in die Hände der Flics geraten. Blinken. Rechts. Dritter Gang. Links, Quai du Lazaret. Der Hafen. Geradeaus. Er hatte einen Mann umgebracht. Verdammte Scheiße. Er hatte getötet. Tor 2. Tor 2A.
    Tor 3A.
    Lalla. Lalla und Nedim. Und Abduls kompromittierende, anstößige Blicke. Jede Minute der Mahlzeit fiel ihm wieder ein. Abduls Blicke auf Lallas Körper. Er hätte sie nicht allein lassen dürfen. Allein mit Abdul. Er hätte seine Tochter nicht dort lassen dürfen. Lalla.
    Er hörte ihren Schrei. Ein schriller Schrei, der ihm eiskalt runterlief. Er hastete über die Gangway. »Lalla! Lalla!«
    Ihr Schreien kam vom Deck. Bug oder Heck?
    Wieder hörte er sie. Das war kein Schrei mehr. Ein herzzerreißendes Schluchzen. Heck, beschloss er. Er rannte los, vermied das Gerümpel, das überall herumlag. Winde, Kabel, Tauwerk. Mit der Fußspitze trat er voll gegen einen Eimer Farbe.
    Lalla hockte zusammengekrümmt in einer Ecke unter der Reling. Schluchzend stieß sie kurze Schreie aus. Abdul stand aufrecht mit hängenden Armen vor ihr. Zwischen ihnen Nedim. Nedim, aufgespießt an einem Teufelsding, das Diamantis nicht ausmachen konnte. Er sah nur das Ende eines eisernen Gegenstands, der aus seinem Rücken ragte. Er kam näher. Das Eisen hatte Nedims Brustkorb durchbohrt, auf der Höhe des Herzens, und kam zwischen den Schulterblättern wieder raus. Sein Mund stand offen. Als wollte er eine letzte Äußerung, ein letztes Wort, hervorbringen.
    »Er ist tot«, hörte er Abdul sagen.
    Weder Frage noch Behauptung. Tot. Punkt. Diamantis beugte sich über die Reling und kotzte. Ein kräftiger, heftiger Strahl. Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.
    »Ich hab ihn umgebracht.«
    Diamantis ging auf Lalla zu und legte einen Arm um sie. Sie sah ihn verstört an. »Nedim …«, schluchzte sie.
    »Komm. Gehen wir.« Er half ihr aufzustehen. Sie stützte sich auf ihn. »Und du, geh in deine Kabine!«, befahl er Abdul. »Ich komme wieder.«
    »Dieses Scheißdeck müsste sauber gemacht werden. Ich habe es immer gesagt …«
    Diamantis hörte nicht zu.
    Abdul schaute in den Himmel. Einige leichte Wolken verbargen die Sterne. Wie sollte er jetzt einen Schlusspunkt setzen? Céphée und Cepheus waren unsichtbar geworden.

27 Das Gewesene bestimmt das Sein
    Der Wachmann war abgelöst worden. Ein anderer, jüngerer nahm seinen Platz ein. Diamantis drückte zweimal kurz auf die Hupe. Die Schranke
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