Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran
Autoren: Jean-Claude Izzo
Vom Netzwerk:
Die beiden Männer machten eine Bestandsaufnahme der Vorräte. Zehn Kilo Spaghetti, ebenso viel Reis. Acht Kilo rote Bohnen. Sechs Dosen Kichererbsen à fünfhundert Gramm. Acht Dosen Makrelen, zwölf Büchsen Ölsardinen. Drei Gläser Nescafé à fünfhundert Gramm, eine Dose schwarzen Tee, eine Schachtel Kekse, Zwieback in einer großen Aluminiumbüchse. Ein Kanister Öl, drei Viertel voll. Salz, Pfeffer. Ein Schlauch Wein im Karton. Vier Rutschen Bier und ein Rest Whisky. Die Trinkwasserreserve zeigte zwölf Liter an.
    »Wir schwimmen nicht gerade im Überfluss«, scherzte Abdul, »aber am Hungertuch nagen wir auch nicht.«
    In stillem Einverständnis machten sie Spaghetti und verbrauchten die letzte Dose Tomatenmark. Sie aßen schweigend. Wie auf See. Sie hatten dieselben Gesten, dieselben Haltungen wieder angenommen. Jeder hatte sich auf den Platz gesetzt, auf dem er seit ihrer Abfahrt aus La Spezia gesessen hatte. Auch ihr Blick ging in die Ferne, in jene Weite, wo es keine Gedanken mehr gibt, nur noch Bilder, die aufeinander folgen, sich verketten, manchmal ohne ersichtlichen Grund.
    Abdul brach das Schweigen. Weil es ihm nicht gelingen wollte, Céphées Gesicht in seiner Vorstellung zu rekonstruieren. Er konnte ihren Blick spüren, aber nicht die Konturen nachzeichnen. Die runden Wangen, das feine Kinn, die sanfte Stirn. Er hätte sie gern lächeln sehen und dieses Lächeln mit seinen Fingerspitzen liebkost. Er hätte gern ihre Augenlider geküsst und gesehen, wie sie danach ihre schwarzen, glänzenden Augen öffnete …
    »Ob wir wohl ein Gewitter kriegen, was meinst du?«
    Diamantis sah auf und zuckte mit den Schultern.
    »Ach ja«, fuhr Abdul fort, »die Männer lassen dich grüßen. Sie wollten Abschied nehmen, aber … Du warst früh fort, heute Morgen.«
    »Ist es gut gelaufen?«
    »Ja, ja. Nur mit Ousbène gab es ein Problem. Der Idiot hatte seine Papiere nicht in Ordnung. Er musste zur Präfektur, um sich eine Aufenthaltsgenehmigung zu besorgen.«
    »Was machen sie alle?«
    »Keine Ahnung. Außer Ousbène, er wollte nach La Spezia zurück. Er hat einen Cousin da unten. Er will auf ein Schiff warten, hat er gesagt. Und Nedim hat einen Fernfahrer gefunden, der ihn nach Istanbul mitnimmt. Für fünfhundert Francs, glaube ich.«
    »Hast du geglaubt, ich würde abhauen?«
    »Das wäre dein gutes Recht.«
    »Weil es nur deine Pflicht ist zu bleiben?«
    Die Frage war so unverblümt, dass Abdul nicht wusste, was er antworten sollte. »Nein«, stammelte er. »Nein.«
    »Das ist also völlig freiwillig. Für uns beide. Wir sind hier. Und wir werden schon sehen, oder nicht? Vielleicht prügeln wir uns in zwei oder drei Tagen.«
    »Warum sollten wir uns prügeln?«
    »Weil wir ums Verrecken gern wüssten, warum wir hier sind, du und ich, einander gegenübersitzen, Spaghetti mit einer scheußlichen Sauce runterwürgen und Wein trinken, der nach Essig schmeckt.« Er stand auf, steckte sich eine Zigarette an und zog den Rauch in der Erregung tief ein:
    »Und weil weder du noch ich darüber reden wollen. Ich glaub, ich leg mich hin. Ziehen wir das Fallreep ein?«
    »Wir haben es nie eingezogen. Warum fragst du?«
    »Weil du der Kapitän bist, Abdul. Verdammt!«
    Sie mussten lachen.
    »Wie wärs, wollen wir den Whisky noch austrinken?«, schlug Abdul vor.
    »In Anbetracht der Lage hast du Recht. Na los, nimm die Flasche. Ich erklär dir dann die Karte, wenn du möchtest.«
     
    Diamantis fing an. »Im Altertum nannte man die Karten die Erd zeitalter. Tatsächlich – zwischen dieser Karte und denen, die wir heute in der Seefahrt benutzen, hat die Erde ihr Gesicht verändert. Häfen haben ihre Namen gewechselt wie die Meere, die sie umspülten. Manche sind ganz verschwunden. Wenn ihre Geschichte nicht jetzt geschrieben wird, wird sie nie mehr geschrieben.«
    Diamantis zeigte mit dem Finger auf zahlreiche Orte und ließ sich die Namen von traumumwobenen Häfen auf der Zunge zergehen. »Salonae, Aquileia und Atria an der Adria. Sybaris, Lilybaion, Phokaia. Die beiden Caesarea an den Küsten Afrikas und Kleinasiens. Die beiden Ptolemaïs, eines in Libyen, das andere in Phönizien. Kaloi Limenes, die Guten Häfen in der Nähe von Lasäa im Süden Kretas, vom heiligen Lukas in der Apostelgeschichte erwähnt. Tarsos in Kilikien, bekannt von den Toren der Kleopatra. Und Tarsis, berühmt für seine Flotte, dessen genaue Lage nicht bekannt ist. Dora, am Fuße des Karmelgebirges. Apollonia und Berenike, zu beiden Seiten der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher