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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran
Autoren: Jean-Claude Izzo
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kein Recht, das zu sagen. Wir sprechen nicht mehr darüber, Nena und ich. Das Thema ist vergangen und vergessen.«
    Diamantis trank schweigend aus und stand auf. Am liebsten hätte er Dimitri eine geknallt. Aber das hätte die Vergangenheit nicht ausgelöscht und nichts an der Gegenwart geändert.
     
    In der Tageszeitung breitete Hass sich auf allen Seiten aus. Bosnien, Ruanda, Tschetschenien, Irland. Diamantis wäre am liebsten wieder ausgelaufen. Sich in einer Sternennacht mitten auf dem Ozean verlieren. Sich auflösen zwischen Himmel und Meer. Doch die Chancen, dass dies bald geschehen würde, waren gering. Er hatte sich bei der Seemannsmission erkundigt. In Marseille gab es nur wenige Schiffe, auf denen man anheuern konnte. Er musste zu seinem Ausgangspunkt zurück.
    Nach La Spezia. Oder woandershin.
    »Na«, fragte Toinou. »Wie hast du dich entschieden?«
    »Ich bleibe. Ich warte mit Abdul. Obwohl ich glaube, wir sind bescheuert, alle beide. Er hat das Kommando für den Frachter übernommen, verstehst du, und er lässt sich nicht so leicht davon abbringen. Er will ihn irgendwo hinbringen. Ich bin als Erster Offizier mit ihm an Bord gegangen. Und ich gehe dahin, wo er hingeht. Ich weiß sowieso nicht, wo ich hingehen soll.«
    »Nach Hause. In der Zwischenzeit.«
    Das konnte Toinou nicht verstehen. Es war Diamantis unmöglich, sich zu sagen: »Ich geh nach Hause und warte.« Das war die Krux im Leben der Seefahrer. Warten gab es nicht. Nur aufzubrechen hatte einen Sinn. Fortgehen und wiederkommen. Sogar die mit Familie dachten so. Die meisten zumindest. Denn Diamantis wusste wohl, dass heute viele zur See fuhren, weil sie an Land nichts Besseres fanden. Nedim, der Funker auf der Aldebaran, war so einer. Mit achtzehn hatte er zum ersten Mal das Meer gesehen, als er zum Militärdienst einberufen wurde. Bei der Armee hatte er Funker gelernt. Als er an Land keine Arbeit fand, hatte er sich auf See umgeschaut.
    »Ich wurde nicht einmal seekrank«, hatte er eines Abends erzählt. »Der Koch aber meckerte ständig, weil ich selbst bei schlechtem Wetter für vier aß. Da hat er eines Abends gefragt: ›Nedim, was meinst du, ist es das Meer, was sich bewegt, oder sind es die Berge?‹ Ich hab fünf Sekunden gebraucht, um zu verstehen, und weniger als eine Minute, um aufs Deck zu kotzen! Jetzt wird mir bei der kleinsten Bö hundeelend.«
    »Das funktioniert immer bei den Bauern!«, hatte Gregory, der Maschinist, gegrinst.
    »Wer wird nicht seekrank?«, hatte Diamantis gefragt.
    »Ich«, hatte Ousbène posaunt.
    »Aha. Und wie schläfst du bei Sturm?«
    »Auf dem Rücken«, hatte er gelacht.
    »Ich auch«, hatte Diamantis geantwortet. »Sobald du auf der Seite schläfst, bist du reif fürs Klo! Das ist mir in dreißig Jahren nicht passiert!«
    »Ich lege mich auch auf den Rücken«, fuhr Nedim fort. »Das ändert nichts. Ich merke, wie es rauf und runter geht.«
    »Wegen dem Idiot, der dir was von Bergen erzählt hat«, sagte Ousbène.
    »Das war ein Grieche. Die sind die größten Dummköpfe.«
    Alle waren in Gelächter ausgebrochen. Und Nedim merkte erst jetzt seinen Schnitzer. »Oh! Verdammt! Tut mir Leid. Hat nichts mit dir zu tun. War nur ganz allgemein.«
    So fühlte Diamantis sich wohl. Mit Männern, die so redeten, ohne Hintergedanken.
    Toinou sah ihn aus seinen großen, vorstehenden, leicht blutunterlaufenen, aber vor Freundlichkeit strahlenden Augen an. Er verstand nicht, was in Diamantis’ Kopf vorging, aber das war nicht so wichtig.
    »Hör zu«, sagte er sehr ernst. »Du kannst kommen, wann du willst. Du bist hier zu Haus. Und du kannst deinen Freund mitbringen, den Kapitän. Ihr braucht euch nicht zu genieren. Ich glaub, wenn du bleibst, ist es ein bisschen wegen ihm. Wegen dem Respekt, den du für ihn empfindest. Aus Freundschaft …«
    »Nein, Toinou«, hätte Diamantis antworten können. »Ich bleibe, weil ich allein bin.« Aber er sagte nichts dergleichen. Er sagte nur: »Danke, Toinou.«

3 Wir schwimmen nicht im Überfluss, aber am Hungertuch nagen wir auch nicht
    Als Abdul spät abends auf die Aldebaran zurückkehrte, saß Diamantis in der Messe. Er hatte eine Landkarte vor sich auf dem Tisch ausgebreitet. Eine alte, römische Karte. Daneben ein Block, auf dem er sich Notizen machte. Er trug Shorts, und sein Oberkörper war nackt. Stickige Gewitterluft drang durch die offene Tür. Als Abdul eintrat, sah er auf.
    »Nun? Sind nur noch wir zwei übrig?«
    Abdul antwortete nicht. Er zog sein Hemd aus,
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