Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran
Autoren: Jean-Claude Izzo
Vom Netzwerk:
Wie um endlich mit seinem Leben aufzuräumen.
    »Nehmen wir noch einen?«, Abdul zeigte auf die leere Flasche.
    Diamantis ließ sich nicht zweimal bitten. Der Wein ist zum Erinnern da, nicht zum Vergessen.

2 Nachts sind wir von aller Welt verlassen
    Abduls Blick folgte Diamantis durch das Fenster seiner Kabine. Wo mag er so früh hingehen?, fragte er sich. Er hatte das letzte Fahrrad, das der Besatzung geblieben war, nicht genommen, und das erregte seine Neugier.
    Zum ersten Mal seit sie in Marseille festsaßen, machte Abdul sich Gedanken über Diamantis’ Ausflüge an Land. Er brach morgens auf, aber meist mit dem Fahrrad, und zwei oder drei Stunden später kam er wieder. Manchmal blieb er auch den ganzen Tag fort. In diesem Fall ging er zu Fuß. Wie heute. Aber er ging nur mit seinem Einverständnis. Und ohne sich je vor den Aufgaben zu drücken, die jeder auf dem Schiff zu erfüllen hatte. Eines Nachmittags hatte er sogar der Mannschaft geholfen, den Rost in Angriff zu nehmen, der sich auf dem Schiff breit machte. Am Abend hatte Abdul ihn ein wenig trocken darauf aufmerksam gemacht, dass ein Erster Offizier dort nicht hingehörte.
    Diamantis hatte geantwortet, dass der Rost auch nicht auf das Schiff gehörte.
    Abdul hatte gelächelt. »Ich weiß. Das mit dem Rost war nur, damit die Männer was zu tun haben. Damit es niemandem einfällt, an Deck herumzugammeln. Es kommt langsam zu Spannungen unter den Männern. Vor allem zwischen den beiden Birmanen und dem Rest der Mannschaft. Ich weiß nicht, ob dir klar ist, dass die Aldebaran, bevor ich sie übernommen habe, vierundzwanzig Monate eingemottet war. Deshalb können wir den Rost abkratzen, solange wir wollen, das wird nichts mehr nützen.«
    »Ich bin wie sie, Abdul. Ich hab auch Lust, draufzuhauen. Und sei es auch nur auf diesen Schrotthaufen. Und ich will dir was sagen, es geht mir besser. Den Männern auch. Wir haben uns das in den Kopf gesetzt, und es erinnert zumindest an das Leben eines Seemanns.«
    An diesem Abend begannen sie zu reden.
    Danach war nichts mehr wie früher. Es wurde ihm bewusst, wie viel »Tiefgang« dieser wenig gesprächige Mann hatte. Geahnt hatte er es immer schon. Diamantis hätte schon lange sein Freund sein können. Er hätte sich ihm anvertrauen, ihn um Rat fragen können. Und vielleicht wäre manches ganz anders gekommen. Vielleicht wäre er immer noch der stolze Kapitän Abdul Aziz und nicht der jämmerliche Kommandant dieses verdammten Seelenverkäufers. Die entscheidenden Fragen, dachte er, stellt man sich immer zu spät. Wenn man im Leben gescheitert ist. Wenn es kein Zurück mehr gibt.
    Er zog seinen Stuhl ans Kabinenfenster, um Diamantis weiter nachsehen zu können. Dieser schlenderte lässig über den Digue du Large. Mit dem Gang eines Mannes, der kein Ziel hat. Er schien zu humpeln, als ob seinem linken Bein ein paar Zentimeter fehlten. Aber das war nur ein Eindruck, als ob der Mann nicht auf festen Boden gehörte. Er selbst hatte immer auf seine Haltung, sein Äußeres großen Wert gelegt. Diese Vorliebe für eine stattliche Erscheinung hatte er von seinem Vater. »Halt dich gerade«, konnte der nicht oft genug wiederholen. »Ein gebeugter Mann ist ein gebeutelter Mann.« Und er fügte hinzu: »Sieh mir in die Augen. Wenn du etwas angestellt hast, ist das kein Grund, den Kopf hängen zu lassen!« So war er seinem Vater gegenübergetreten, als er aus Sydney zurückgekommen war. Aufrecht, Aug in Aug. Die beiden Männer hatten sich abgeschätzt. Schließlich sagte sein Vater nur: »Willkommen daheim, mein Sohn.« Eine Woche später war er als Offiziersanwärter bei der Handelsmarine eingeschrieben.
    Abdul hatte sich gefreut, als Diamantis in Genua das Fallreep hinaufgeklettert kam. Ihm war nur gesagt worden: »Wir haben einen Ersten Offizier für Sie gefunden.« Er hatte nicht damit gerechnet, einen Ersten Offizier zu bekommen. Eigentlich hatte er mit niemandem gerechnet. Die Aldebaran hatte ausgedient. Abdul wusste das. Sie war nur ein alter Massengutfrachter. Für den konnte man arme Teufel anheuern, die es irgendwann auf die See verschlagen hatte wie andere in die Fabrik. Jeder musste eben seine drei Groschen verdienen, um zu überleben und die Familie zu ernähren. Heute war es einfacher, einen auslaufenden Kahn zu finden als einen guten Job. So war das in Europa. So war es überall.
    Abdul sah Diamantis noch einige Augenblicke nach. Er blieb plötzlich stehen, steckte sich eine Zigarette an, knüllte das Päckchen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher