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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran
Autoren: Jean-Claude Izzo
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wartete. Da war nur Mikis, sein Sohn, achtzehn dieses Jahr. Die Hälfte von dem, was Diamantis verdiente, war für ihn, um das Studium in Athen zu bezahlen. Mikis mochte die Literatur, und Diamantis stellte sich manchmal vor, dass sein Sohn schreiben und Romane von seinen Reisen erzählen würde. Aber in Wirklichkeit hatte Diamantis nur eine Angst: dass Mikis auch zur See fahren würde. In seiner Familie vererbte sich das seit Generationen.
    »Ich bin mein ganzes Leben hinter meinem Vater hergelaufen«, erzählte er Abdul eines Abends. »Bis zu seinem Tod. Was sollte ich dann anders tun, als zur See zu fahren. Ohne sie konnte ich nicht mehr leben. Mein einziger Versuch, an Land festzumachen und sesshaft zu werden, war die Heirat mit Melina. Wir haben uns in Agios Nikolaos auf der Insel Psará niedergelassen, wo mein Vater ein Haus gekauft hatte. Aber was willst du auf einer Insel machen, die den Ziegen gehört? Wir haben ein Kind gemacht! Abends habe ich ihm Homer vorgelesen, um es in den Schlaf zu wiegen. Vier Jahre später ging ich wieder auf See. Melina ist nach Athen zurückgekehrt, zu ihrer Familie. Mit Mikis im Arm. Als ich zwei Jahre später wieder kam, hat sie mit der Scheidung auf mich gewartet. Ich bin eine Woche geblieben, dann bin ich wieder gegangen und habe nie mehr vorbeigeschaut. Es ist das erste Mal seit Mikis Geburt, dass ich so lange an Land bleibe.«
    »Und wie fühlst du dich dabei?«
    »Mir ist, als wüsste ich nicht mehr, wer ich bin. Und du?«, hatte Diamantis gefragt.
    »Heute geht es mir wie dir. Es ist alles so unklar. Mein Leben. Céphée, die Kinder. All das. Ich frage mich, was ich überhaupt will in meinem Leben.«
    Diese Antwort hatte Diamantis überrascht, so offen und direkt, auch so ungewöhnlich intim. Eigentlich hatte er nur wissen wollen, wie Abdul Seemann geworden war. Das erste Mal ist für einen Seemann so wichtig, wenn nicht wichtiger, wie das erste Mädchen, das er in seinem Bett gehabt hat. Dieselbe Angst. Derselbe Taumel. Und dass man diese Liebe, einmal aus dem Hafen ausgelaufen, nie wieder los wird. Das dachte Diamantis jedenfalls.
    Die beiden Männer waren schon einige Male zusammen gefahren. Auf anderen Frachtern, für andere Reeder, aber immer in diesen Rollen. Aziz der Kapitän. Diamantis sein Erster Offizier. An diese Rangordnung hatten sie sich immer gehalten. Mit Vertrauen. Mit Respekt. Nie hatten sie über ihr Leben gesprochen. Über dieses Leben an Land, wo sie sich, wären sie sich begegnet, gewiss nicht viel zu sagen gehabt hätten. Nicht einmal auf der langen Fahrt nach Saigon vor sechs Jahren hatten sie viele Worte gewechselt. Wir werden langsam alt, hatte Diamantis damals gedacht.
    Abdul hatte über Diamantis’ Erstaunen geschmunzelt. »Ich habe deine Frage nicht beantwortet, stimmts?«
    »Doch, schon. Aber … Denk mal nach, Abdul … Nach all der Zeit. Was ist los mit uns? Werden wir verdammt noch mal sentimental, oder was?«
    »Es kommt davon, dass wir so lange an Land sind … So lange. Das verändert uns. Das Meer ist nicht mehr zwischen uns. Und wir entdecken die Leere. Und die Angst, unterzugehen.«
    »Hast du Angst?«
    »Angst davor, hier zu enden, ja. Nicht mehr aufs Meer hinauszufahren, meine ich. Kein Schiff mehr zu haben.« Abdul versank in Schweigen.
    Sie waren zwischen Winde und Ankerkette entlanggegangen, vorbei an den Ankerklüsen bis zur äußersten Spitze des Bugs. Abdul lehnte sich auf die Reling und betrachtete die Sterne. Schließlich zeigte er in den Himmel.
    »Siehst du, der Stern dort, das ist Cepheus. Meine Frau, Céphée. Mein guter Stern. Hast du auch einen?«
    »Ich bin ihnen allen gefolgt«, scherzte Diamantis. »Keiner hat es wirklich gut mit mir gemeint.«
    »Ich bin durch Zufall Seemann geworden. In meiner Familie gibt es seit Generationen nur Händler. Eines Tages hat Walid, mein älterer Bruder – wir sind zwei Jungs und drei Mädchen –, Beirut verlassen, um in Dakar einen Laden aufzumachen. Es lief gut. Mein Vater hat mich hingeschickt, um zu helfen. Ich war dreiundzwanzig und fuhr zum ersten Mal über das Meer. Das war auf der Espérance. Ein Postschiff, das bis zum Krieg nach Neukaledonien gefahren war. Die Espérance, Hoffnung, du verstehst, was ich meine!
    Ich hab die ganze Reise fast nur auf dem Deck verbracht. So irre war das. Liebe auf den ersten Blick, wenn du so willst! In Dakar, stell dir vor, hab ich mich gelangweilt wie eine tote Ratte. Sowie ich nur konnte, bin ich zum Hafen gelaufen, um die Schiffe
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