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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran
Autoren: Jean-Claude Izzo
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anzuschauen. Und was für Schiffe ich da gesehen habe! Bald hab ich mich mit einem Typ in meinem Alter angefreundet, Mamoudi. Sein Vater arbeitete für eine amerikanische Reederei, die European Pacific and Co. Er hat mich ihm vorgestellt. Zehn Tage später heuerte ich nach Botany Bay an, dem Hafen von Sydney. Auf der Columbia Star. «
    Sie hatten ihr Gespräch spät abends auf der Terrasse von Chez Roger et Nénette fortgeführt, einem winzigen Restaurant beim Alten Hafen. Dort wurden hervorragende Pizzas serviert, aber vor allem kleine Lasagne mit Tomatensauce nach Art der Region, dazu gab es in derselben Sauce zubereitete Lerchen. Eine Köstlichkeit. Sie waren mit dem Fahrrad bis zum Trockendock gefahren. Dort hatten sie den Bus ins Zentrum genommen. Die Fahrräder waren ein Geschenk der Gewerkschaft der Hafenarbeiter. Fünf Fahrräder. Heute war nur noch eins übrig. Die anderen waren ihnen an der Bushaltestelle geklaut worden!
    »Als ich Mamoudi kennen gelernt habe«, fuhr Abdul fort, »hatte seine Frau gerade ein Kind gekriegt. Ein Mädchen. Wir haben zusammen gefeiert. Es war sein erstes Kind. Und du wirst mir nicht glauben, Diamantis, die Kleine, das ist Céphée!«
    Diamantis sagte nichts. Er hörte zu. Dank dem Wein, einem Rosé aus Bandol – »Domaine de Cagueloup«, hatte der Wirt hervorgehoben und ihnen die Flasche gezeigt –, konnte er das Unbehagen überwinden, in Abduls Privatleben einzudringen. Er ahnte, dass ihre Beziehung nie mehr die gleiche sein würde. Sich gegenseitig zu öffnen – und Diamantis war ebenso bereit dazu –, hieß sich einzugestehen, dass man schlicht und einfach gestrandet war.
    »Eines Morgens, achtzehn Jahre später, mache ich einen Zwischenstopp in Dakar. Ich fuhr auf der Eridan, dem ersten Schiff, das man mir anvertraute. Ich besuchte Mamoudi. Ich hatte regelmäßig von mir hören lassen. Eine Postkarte oder so. Von hier, von da … Das war das Mindeste, was ich ihm schuldig war. Und wer macht mir die Tür auf?«
    »Das Mädchen.«
    »Verdammt, Diamantis, ich war wie festgenagelt! Diese Göre, die ich im Arm gehalten hatte, war eine Göttin geworden. Eine Schönheit. Ich habe viele Frauen gesehen, gekannt … Wie du sicher auch. Aber sie …«
    Diamantis ertappte sich dabei, wie er auf einmal an Melina dachte. Er hatte sie geliebt, sicher. Aber aus Vernunft. Oder aus Trotz. Was aufs Gleiche hinauslief. Sein Vater war gerade gestorben, und er hatte sich gesagt oder versucht, sich davon zu überzeugen, dass er nun genug von der Welt gesehen hatte. Dass er aufhören könnte. Der Mann, der ihm in seiner Kindheit so sehr gefehlt hatte, dem er von Hafen zu Hafen nachgelaufen war, in der Hoffnung, eine Nacht, einen Tag, eine Woche mit ihm zusammen zu sein, dieser Mann war zurückgekehrt, um in seinen Armen zu sterben. Auf Psará. Melina war mit ihren Eltern zur Beerdigung gekommen. Er kannte sie seit seiner Kindheit. An jenem Abend hatten sie sich geliebt. Am Abend der Beerdigung. Nein, Diamantis, sagte er zu sich selbst, du spinnst. Melina war schön. Sie war für dich. Du hast sie wirklich geliebt.
    »Woran denkst du?«, fragte Abdul.
    »An Melina. Auch sie war schön.«
    Abdul brach in Gelächter aus. »Die Frauen, die man liebt, sind immer schön. Sonst würden wir nicht mit ihnen schlafen! Es gibt Tausende, die schöner sind als Céphée, ich weiß. Ich bin ihnen in allen Häfen der Welt begegnet … Aber sie … Was in ihren Augen lag, war nur für mich. Das ist Liebe. Das hab ich begriffen, als sie an dem Tag die Tür aufmachte. Vielleicht hat sie sich daran erinnert, wie ich sie als Baby im Arm gehalten habe. Meine Hände unter ihrem kleinen Hintern …«
    Abdul war ein wenig betrunken. Diamantis verlor sich in Gedanken. Die Erinnerungen wühlten die Vergangenheit auf, wie einen abgestandenen Tümpel. Er hätte sich das Ganze am liebsten aus dem Kopf geschlagen. Denn hinter Melina zeichnete sich das Gesicht einer anderen Frau ab. Ein junges Mädchen von achtzehn Jahren, das er wahnsinnig geliebt und grußlos verlassen hatte. Er hatte sie sitzen lassen.
    Das war vor zwanzig Jahren gewesen, in Marseille. Er hatte nie versucht, sie während seiner kurzen Aufenthalte wieder zu sehen oder herauszufinden, was aus ihr geworden war. Nicht einmal, seit er hier festsaß. Aber in diesem Augenblick vermisste er sie schrecklich. Amina. Ihr Bild drängte sich ihm auf. Jetzt war es geschehen und unausweichlich. Nun wusste er, womit er seine Zeit verbringen würde. Sie wieder zu finden.
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