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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran
Autoren: Jean-Claude Izzo
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zusammen, warf es in die Luft und trat dagegen, bevor es zu Boden fiel. Ein sauberer Treffer, der die Papierkugel weit ins Meer beförderte.
    Komischer Kerl, dachte Abdul. Was der wohl auf der Aldebaran verloren hatte. Das verstand er immer noch nicht.
    »Jeder hat seine eigenen Sorgen«, murmelte er. Die seinen machten ihm schon genug zu schaffen. Er setzte sich an den Schreibtisch. An der Wand hatte er ein Foto von Céphée und den Kindern befestigt und ein weiteres, auf dem er seinem Vater die Hand reichte. Darüber war eine Postkarte aus Deir el-Qamar gepinnt, seinem Geburtsort im Osten von Beirut, die Walid ihm vor der Abreise nach La Spezia geschickt hatte. »Man hat uns für Großvaters Haus entschädigt«, hatte er geschrieben. »Du siehst, der Libanon wird neu aufgebaut. Endlich ist Frieden zwischen unseren Volksgruppen. Dein Platz ist immer noch bei uns. Es gibt genug Arbeit für unsere beiden Familien.«
    Abduls Blick glitt von einem Bild zum nächsten und ruhte schließlich auf den Formularen, die er der Mannschaft geben musste. Jeder Mann würde tausendfünfhundert Francs erhalten. Als pauschale Abfindung. Die Männer verpflichteten sich, keine weiteren Rechte geltend zu machen, selbst wenn das Schiff verkauft würde. Das war natürlich Betrug. So wurden die Übernahmekosten für den neuen Reeder gesenkt. Aber zumindest würden sie nicht alles verlieren. Abdul glaubte nicht mehr an einen Freikauf der Aldebaran. Eigentlich gab es nicht mehr viel, an das er glaubte. Doch, eines: Er war überzeugt, dass sein Leben zu einem Abschluss gekommen war. Das hatte er Céphée gerade geschrieben. »Ich glaube, nachts sind wir von aller Welt verlassen …« Der erste Satz aus seinem Brief.
    Bevor er seine Kabine verließ, notierte Abdul im Bordbuch: »k.b. V.«, keine besonderen Vorkommnisse. Wie jeden Tag. Nur, dass das heute nicht stimmte. Heute würde die gesamte Besatzung das Todesurteil der Aldebaran unterschreiben. Und seines mit.
     
    Diamantis hatte einige Gewohnheiten angenommen. Etwa den Besuch in einem Bistro an der Place de Lenche, unterhalb vom Panier-Viertel, nur wenige Schritte vom Alten Hafen entfernt. Der ehemalige Hafenarbeiter Toinou Bertani hatte es vor mittlerweile fast drei Jahren übernommen. Mittags servierte er etwa zwanzig Mahlzeiten für einige Stammgäste. Provenzalische Küche, einfach, aber hervorragend. Diamantis kam morgens gern dorthin. Er setzte sich auf die Terrasse, unter die Platanen, trank zwei oder drei Kaffee und las die Zeitung.
    Einmal hatte Toinou sich zu ihm an den Tisch gesetzt und gesagt: »Soll ich dir einen Pastis ausgeben?«
    Bis dahin hatten sie nur die üblichen Gemeinplätze ausgetauscht. Gerade genug, um kein anonymer Kunde zu sein. Am Vorabend hatte ein Bericht über die Aldebaran in der Zeitung gestanden. Mit einem Foto von der Besatzung. Da hatte Toinou zu seiner Frau Rossana gesagt: »Verdammt, aber das ist doch der Typ, der jeden Morgen bei mir Kaffee trinkt.«
    »Armer Kerl!«, meinte Rossana, nachdem sie den Artikel gelesen hatte. »Das ist bestimmt nicht lustig für die. Die haben wahrscheinlich nicht mal was Vernünftiges zu essen.«
    Diamantis hatte den Aperitif nicht abgelehnt und auch nicht Toinous Einladung nach dem dritten Pastis, das Tagesgericht mit ihnen zu teilen. »Wenn es für zwanzig reicht …« Diesen Mittag standen frische Nudeln mit Gemüseragout in Olivenöl auf der Speisekarte. Ein Hochgenuss. Die beiden hatten nur einen Traum: Ein »richtiges« Restaurant aufzumachen.
    Aber Rossana betonte: »Nicht wie am Hafen. Günstig muss es sein. Wenn ein Arbeiter von der Terrasse auf die Tische guckt und sieht, dass die kleinen Teller in die großen gelegt sind, dann sagt er sich, so was ist nichts für mich.«
    Diamantis wurde schnell klar, dass es noch dauern würde, bis sie ihr Restaurant eröffnen konnten. Hier gab man gern Kredit. Aus Prinzip. »Du wirst noch auf der Straße landen, wenn du so weitermachst.«
    »Ich bin fast sechzig. Wenn ich Pleite mache, geh ich einfach in Rente. Nichts leichter als das. Und wenn ich nicht genug habe, helfen mir mein Sohn und meine Tochter!«
    Bruno und Mariette. Diamantis war ihnen schon öfter begegnet. Bruno, das Ebenbild seines Vaters, hatte Hafenarbeiter werden wollen, und Toinou hatte ihn nicht davon abhalten können. Mariette leitete ein kleines Immobilienbüro in der Rue Saint-Ferréol. Fröhlich, rundum mit sich zufrieden und mit berückenden, haselnussbraunen Augen ausgestattet. Toinou und Rossana,
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