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Albspargel

Albspargel

Titel: Albspargel
Autoren: Günther Bentele
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Fideler, bin im Unterland geboren, teilweise aber auf der Alb in Tigerfeld aufgewachsen und hier fast so heimisch geworden wie im Unterland, wo ich zur Schule ging. Die beiden ersten Silben im Namen Fideler spricht man lang, also mit langem »i« und langem »e«, die Betonung liegt dabei auf dem »i« der ersten Silbe, was manche verblüfft. Aber es ist so.
    Ich bin Meteorologe mit Spezialisierung auf die Strömungsforschung des Windes und hätte eigentlich seit fünf Jahren im Ruhestand sein müssen. Aber wie überall, wo die Wirtschaft boomt, fehlen Fachkräfte. Seit sich die Anlagen zur Gewinnung der Windkraft, dank kräftiger Subventionen und dem Wechsel in der Politik, ausbreiten, sind Windspezialisten gesucht wie seltene Erden.
    Man hatte mich trotz Altersgrenze gebeten, für bestimmte Standorte Windgutachten zu erstellen – so vergingen ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre, fünf Jahre. Zu dem neuen Auftrag hatte ich schon nein gesagt, denn ich wollte meinen Ruhestand noch einige Jahre bei guter Gesundheit genießen, und man weiß ja nie – mit siebzig.
    »Sicher, es ist wohl schlimm, siebzig zu werden«, sagte ich vor einigen Jahren zu einem Freund, der die neuerworbene Sieben in seinem Lebensalter nur schwer ertrug, »aber viel schlimmer ist es, nicht siebzig zu werden.«
    Doch dann hatte ich ahnungslos, fast beiläufig, ohne wirkliches Interesse die Unterlagen zu einem bestimmten Projekt geöffnet. Der Kollege, der es eigentlich hätte bearbeiten sollen, war krank geworden. »Windkraftanlage Tigerfeld«, las ich – ein elektrischer Bogen, von einer Starkstromleitung auf mich übergesprungen, hätte mich nicht mehr erschreckt als dieser Name.
    Vier-, fünfmal war ich in den beiden letzten Jahrzehnten durch das Dorf meiner Kindheit gefahren. Wenn man so will: mit geschlossenen Augen, und nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Ich wollte den Flecken nicht mehr sehen und auch nicht an ihn denken oder an ihn erinnert werden.
    Aber nun ergriff mich eine seltsame Faszination. Kindheits- und Jugenderinnerungen packten mich wie mit Krallen, es mag auch das Alter gewesen sein. Alles Neinsagen nützte nichts. Ich willigte ein.
    Ein Windgutachten für ein bestimmtes abgegrenztes Gebiet, wie zum Beispiel für eine Windkraftanlage, ist für mich längst Routine. Ich mache meine Arbeit mit dem Computer und gelegentlich noch mit dem Anemometer, dem Windmessgerät, und werde hier nur wenige Worte darüber verlieren. Die entscheidenden Messungen waren letztlich alle bereits von Mitarbeitern gemacht und zusammengetragen worden. Ich hatte sie nur noch am Rechner mit dem Windatlas in Zusammenhang zu bringen, in Simulationsprogrammen auszuwerten und in eine Empfehlung oder Ablehnung münden zu lassen.
    Ich hätte dazu nicht vor Ort sein müssen. Aber erstens ist es gut, wenn man die Messpunkte vor Augen hat bei einer solchen Auswertung. Zweitens wusste ich von der ersten Sekunde an, dass mich das Dorf samt meiner Kindheit, die ich zum Teil darin verbracht habe, buchstäblich mit Haut und Haaren auffressen würde.
    Über den Nutzen einer Anlage für die betreffende Region oder für die Menschheit mache ich mir nur noch wenige Gedanken. Dennoch stört mich als Wissenschaftler, dass hierzulande Diskussionen kaum mehr Bedeutung haben: darüber, wie rasch die Energiewende sich wirtschaftlich und technisch umsetzen lässt; oder auch, inwieweit die Quantifizierbarkeit einer menschengemachten Erwärmung möglich ist; oder wie problematisch der Landschaftsverbrauch für Windkraftanlagen, Überlandleitungen und Pumpspeicherwerke bei einer Totalversorgung mit erneuerbaren Energien ist; wie prekär Energiegewinnung ist, die nicht auf zuverlässig berechenbaren Quellen beruht. So sehr die Atomwende nach Fukushima zu begrüßen ist, um das Restrisiko von Atomanlagen zu vermeiden, um Ressourcen zu schonen, auch um der Tyrannei der Anbieter von Rohstoffen zu entgehen. Aber geschah nicht alles viel zu hastig? Ohne nötige Prognosen und durchgängig kalkulierte Sicherheit der Verbraucher?
    Dazu: Bedeutete die angesichts der Klimaerwärmung weltweite Aufwertung der Meteorologen selbst nicht auch eine Art Bestechung?
    Natürlich musste eine der ersten Windkraftanlagen, die unter der neuen Zielsetzung hier oben errichtet werden sollte, die Gemüter bewegen. Ob ein so riesenhaftes Projekt in die jeweilige Landschaft passte? Für mich war der Beitrag zur Erstellung einer Windkraftanlage nur eine Frage meiner Wissenschaft, hier des Spezialgebiets
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