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Albspargel

Albspargel

Titel: Albspargel
Autoren: Günther Bentele
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Ich war das gewohnt. Wäre ich sonst nach Tigerfeld gegangen?
    Dann las ich auf einem Grabstein plötzlich einen Namen, der mich traurig machte: Franz Graßner. Gestorben war er vor über einem Jahr. »Er suchte Dich woanders«, war darunter zu lesen.
    Was hieß das? Wer war »Er«? Gott? Oder sollte »Er« Graßner bedeuten? Wer war dann mit »Dich« gemeint? Gott? Oder umgekehrt? Rätselhaft. Der Ort. Alles war vertraut und doch neu.
    Veränderungen hatten längst vor den zwanzig Jahren eingesetzt, in denen ich nicht mehr durch den Ort gegangen war.
    Die futuristischen Siloanlagen, von denen sich immer noch einige am Ortsrand erhoben, hatten heute ihre Funktion eingebüßt, das war deutlich zu erkennen; sie wurden von den flachen betonierten Fahrsilos ersetzt, die eher an überkommene, aber ins Gigantische vergrößerte Misten erinnerten.
    In einigem Abstand vom Ortsrand, ich hatte es zuerst gar nicht wahrgenommen, erhoben sich breit und flach die nicht weniger futuristisch anmutenden Kuppelgebäude einer Biogasanlage. Maisfelder kurz vor ihrer Ernte hatte ich genügend gesehen. Mais statt Weizen – Brennstoff statt Brot. Sonst hatten Bauern ihre Ernte in den Fluss gekippt oder Benzin darüber gegossen und verbrannt, wenn sie nicht genug dafür bezahlt bekamen – jetzt wird die Ernte in den Automotoren verbrannt, die Bauern haben ihr subventioniertes Auskommen und die Getreidepreise steigen.
    Ich ging mutig in einem weiten Bogen durch das Dorf, sollten sie mich doch sehen. Leute fremd grüßend, innerlich verkrampft, weil mich jeden Augenblick wieder einer anspucken konnte wie der alte Hochstecher.
    Durch das Dorf schlendern: früher eine Unmöglichkeit. Man konnte nicht zwischen arbeitenden Menschen als Zuschauer herumspazieren. Man fiel unweigerlich auf: »Hast du nichts zu tun, du Faulenzer? Dem lieben Gott den Tag stehlen?«
    Es wurde nicht gesagt, aber man wusste, was die Leute dachten.
    Ich wanderte in den nächsten Tagen immer wieder durch das Dorf und verlor langsam die Scheu vor Blicken und – wie ich es von mir kannte – einigermaßen auch vor Worten. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Den alten Hochstecher sah ich nicht mehr.
    Das Wetter blieb trocken, wie diese Rückseitenwetterlagen mit ihrem hohen Luftdruck ja oft recht beständig sind, nur dass nach einigen Tagen ein Hochnebel, wie er hier auf über siebenhundert Metern eher selten ist, sich zäh hielt und auf eine hohe und dünne, feuchtere und wärmere Inversionsschicht schließen ließ.
    Verfall sprang an vielen Stellen in die Augen: alte Ställe mit schiefen Türen, zerbröckelte Einfassungen; Gerümpel; Scheunen, in deren Dächern Ziegel fehlten; verwilderte Vorgärten. Ich bin als Wissenschaftler gewöhnt, jeder Veränderung die größte Aufmerksamkeit zu schenken. Auch verkommene Wohnhäuser gab es, aber wenige: die Dächer eingesunken, die Fenster mit Läden zugeschlagen oder die Läden herabgefallen. Auf den verkrauteten Höfen zwischen Miste und Stall wuchsen noch immer die Büschel der Wegmalve, der
Malva neglecta
, deren grünliche Fruchtscheibchen wir als Kinder – in der Nachkriegszeit nicht mit Süßigkeiten verwöhnt – begeistert aßen.
    Der Verfall machte keinesfalls den Charakter des Dorfes aus. Insgesamt wirkte es freundlich, ja, bei aller Herbheit fast heiter, wenn der Hochnebel manchmal dünner wurde und die weißliche Scheibe der Sonne als glasig helles Licht auf dem Dorf lag. Gärten, jetzt im Herbst voll Astern und Dahlien, sahen aus wie die Bauerngärten von früher.
    Die neuen Häuser am Rand des Ortes griffen die Gestalt der alten nicht mehr auf. Sie orientierten sich an modernen Einfamilienhäusern wie aus dem Katalog mit städtisch gepflegtem Rasen. Das Dorf wurde an vielen Stellen zur Schlaf- und Freizeitstätte.
    Dazwischen, oft in alten Gebäuden zwischen neuen, die moderne Landwirtschaft; flach gedeckte Ställe, Wellplastik, Beton. Einige Höfe waren deutlich als Anlagen von Teilzeitbauern zu erkennen. Insgesamt mochten es etwa ein Dutzend Anwesen sein, in denen noch Landwirtschaft betrieben wurde. Scheunen waren oft Speicher, Werkstatt oder Garage. In leeren Flächen moderne technische Anlagen, offene Hallen, Gestänge, Maschinen, deren Zweck ich nicht kannte. Im Dorfkern die ausladenden Gebäude und Standflächen eines Spediteurs.
    Am Abend würden auf der B 312 die Fahrzeuge ihre Besitzer zurückbringen von den Arbeitsplätzen in Büros, Werkstätten und Fabriken; die Autos würden in ehemaligen Scheunen
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