Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Albspargel

Albspargel

Titel: Albspargel
Autoren: Günther Bentele
Vom Netzwerk:
auf der B 312.
    Und vor mir, jetzt dunkel gegen die Sonne, lag das Dorf Tigerfeld, breit ausgestreckt. Der vertraute Umriss, samt der barocken Haube der Dorfkirche.
    Ganz nah am Ort kam ich vorbei am altersgrau verbretterten Futterhaus meines Onkels, der hier im Flecken Bauer und Seiler gewesen war. Dahinter der Beerengarten, jetzt eine gestaltlose Wildnis mit eingesunkenen Steinpfosten und verfaulten Zaunlatten. Vom Immenhaus, dem Bienenhaus im hinteren Garten, war nichts mehr zu sehen. Als Kinder hatten wir dort Honigwaben auslutschen dürfen – herrlich süß bei aller Angst gestochen zu werden.
    Einige neue Häuser am Ortsrand, daneben Riesensilos, die nach Industrialisierung aussahen. Einige Scheunen und Ställe bei der Kirche im Ort waren abgerissen – sie hatten Parkplätzen weichen müssen.
    Auch die Scheune meines Onkels war verschwunden. Hier waren wir von der Obet ins Stroh gesprungen, hatten Raubtiere im Zirkus gespielt und Salto vorwärts probiert. Einmal hatte mein Onkel hinterher eine im Stroh verschüttete Sense herausgezogen.
    Die Straßen waren leer zur Mittagessenszeit. Nur ein uraltes Weiblein an einem Holzstoß hatte sich umgedreht und mir lange nachgeschaut. Ich kannte sie noch: die alte Mechthild, eine Bauernmagd, sie musste jetzt weit über neunzig sein. Aber auf sie würde niemand achthaben, wie man hier zu völliger Bedeutungslosigkeit sagt.
    Ich durchquerte den Ort Richtung Huldstetten und Zwiefalten.
    Draußen am Weg beim »Schloss« war eine Baustelle: die Erde aufgerissen wie eine gelbe Wunde und abgeschrankt – ein Rohrgraben; dazwischen die ausgeworfenen gelbbraunen Steine wie Knochen eines Fossils. Die braune Farbe kommt vom Eisengehalt: Man findet auf den Äckern hier oben immer wieder schwarzbraune Kügelchen – Bohneisenerz. Das »Schloss« war ursprünglich Armenhaus und Spital des Klosters Zwiefalten mit verwittertem Wappen über dem Eingangsportal, schlichter Barock mit steilem Mansardendach, ein lieblicher Bau in einer lieblichen Gegend, in dem im Zweiten Weltkrieg jüdische alte Menschen nach der Zwangsenteignung und vor der Ermordung in einem »Judenaltenheim« gesammelt wurden, um einige Monate mitten im Dorffrieden auf den Weitertransport zu warten, voll Ungewissheit und Todesahnung.
    Ein paar Steinwürfe weiter in Richtung Fetzenried konnte man noch lange nach dem Krieg einen ehemaligen Schießplatz sehen; mit Wällen und zerschossenen und abgefaulten Holzpfählen – als hätte man daran Deserteure erschossen.
    Lange vorher hatte man hier oben Flachs gebrochen. Heute sind hier nur noch Steine, Wind, gelbes Gras, Disteln und wilde Stachelbeersträucher.
    Ein schöner Blick auf Huldstetten, dahinter blau und grau eine heute wahrscheinlich nur eingebildete Ahnung der Alpenkette, dazu der Blick auf das Huldstetter Hart, ein paar Dächer von Geisingen.
    Rückwärts, im Sonnenschein und Wolkenschatten Tigerfeld. Früher mein Lieblingsblick. Ein Idyll, das für mich freilich trügerisch geworden war. In der Gestalt immer noch der alte Ort. Aber jetzt von Süden her sah ich zum ersten Mal die vielen Dächer, die mit Photovoltaik gedeckt waren – stahlblau, quadratisch, in der Wirkung irgendwie japanisch oder jedenfalls asiatisch.
    Abgesehen vom Rauschen der wenigen Autos auf der B 312 heute am Sonntagmittag immer noch wie früher die große Stille, nur der Wind bildete ein Hintergrundgeräusch; hie und da das Krähen eines Hahnes oder, trotz Sonntag, das Tuckern eines fernen Traktors, das Schlagen eines Hammers, das Krächzen einer Krähe.
    Hinter dem »Schloss« Richtung Huldstetten zieht sich der Laiherwald bis zum Ganswinkel und erreicht hier die höchste Stelle des Tigerfelder Eschs, wie die Bauern auf der Alb ihre Ackerflur nennen. Am Ganswinkel stehe ich auf einer Höhe von 763 Metern, fast 30 Meter höher als die Kirche von Tigerfeld. Diese ausgesetzte Stelle kann von den kräftigen Westwinden frei erreicht werden; vor allem kaum gebremst durch die Rauigkeit der Landschaftsoberfläche, Wälder und Erhebungen. Ich spürte hier oben die kalten Windstöße viel heftiger als auf dem Weg von Aichstetten und sah die Wolkenschatten, wie jedes Mal bei dieser Wetterlage, in überraschend schneller Folge über die Flur ziehen.
    Auf diesem exponierten Punkt nun sollte nach dem Willen einer Gruppe von Investoren – Bauern und anderen Anlegern – eine Windkraftanlage mit 187 Metern Gesamthöhe errichtet werden.
    Aus diesem Grunde war ich hier. Ich heiße Felix Fideler, Dr. Felix
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher