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Albspargel

Albspargel

Titel: Albspargel
Autoren: Günther Bentele
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Strömung der Winde, und nicht des Naturschutzes oder gar der Ästhetik. Ich bin für solche Themen nicht genügend qualifiziert, um als Wissenschaftler darüber Auskunft geben zu können.
    Das Gesamtergebnis würde ich so rasch wie möglich veröffentlichen: ob die Kraft des Windes und seine Zuverlässigkeit für einen ergiebigen Betrieb an diesem Punkt der Erde ausreichend waren für ein Windrad dieser Größe oder nicht. Das Ergebnis würde sehr spät kommen. Der Vorgang hatte vor meinem Einstieg lange auf Halde gelegen.
    Ich versichere, Lobeshymnen wie: Windkraftanlagen seien Kathedralen des Fortschritts, lassen mich kalt – was haben Kathedralen heute noch mit Fortschritt zu tun? Auch meine ich, dass die Frage eines Windrades keine religiöse Frage ist, wie man bei manchen bekennerhaft vorgetragenen Äußerungen den Eindruck hat. Persönliche Gedanken oder gar Gefühle sind der Wissenschaft abträglich.
    Aber ich spürte, dass es hier in Tigerfeld für mich in seltsamer Weise anders war: Es war ein wunderliches Nebeneinander – eine Art Hassliebe, die dem Ort meiner Kindheit galt. Das Fazit aber war, dass ich den Tigerfeldern die Windkraftanlage in ihrer 187 Meter hohen Monstrosität gönnte, ihnen den Riesenspargel gewissermaßen zufügen wollte wie eine Strafe, wie die Waffe eines schweren Unwetters, das den wunderbar herben Reiz ihrer Landschaft unwiederbringlich zerstören würde. Gleichzeitig aber war ich im Innersten auch empört, ja wütend über diese Zerstörung.

Meine früheste Erinnerung an Tigerfeld setzt ein im Winter 1945 auf 1946. Ich war vier Jahre alt, der Krieg mit den Bomben war vorbei. Im ganzen Unterland gab es kaum ein Stück Brot.
    Nein, ich bin kein Tigerfelder, ich habe es schon einmal betont. Aber ich hatte dort Verwandte, kinderlos: meine Tante und meinen Onkel, den Bruder meines Vaters. In den Hungerzeiten des Nachkriegs war der Bauernhof das Schlaraffenland: Weißbrot, Butter, Rauchfleisch, Würste, Schwarzer Brei, fette Suppen, sogar Butter und Gsälz auf dem Brot, Inbegriff des Paradieses.
    Mein Onkel holte mich kurz nach Weihnachten zu Hause ab. Ich durfte mit der Bahn bis Kleinengstingen fahren, wahrscheinlich die erste bewusst erlebte Zugfahrt meines Lebens. Aber das Bähnlein verließ hier oberhalb der Zahnradbahn an der Honauer Steige unsere Richtung und bog ab Richtung Münsingen.
    Wir mussten zu Fuß weiter. Der Schnee reichte mir bis über die Knie. Zuerst war ich begeistert: Bei uns im Unterland war noch keine Flocke gefallen. Aber nach einer halben Stunde hatte ich mich müde gestapft, und mein Onkel musste mich tragen. Er trug mich die ganze Strecke über Bernloch bis Oberstetten auf dem Arm, zwei Stunden lang im tiefen Schnee. Der Onkel, ein vierschrötiger kräftiger Mann mit Schenkeln wie ein Mastbaum, gelangte hier wohl ebenfalls an seine Grenzen. Es war Nacht geworden und so bitterkalt, dass ich trotz meiner Strickhandschuhe erbärmlich an den Fingern fror. Mehr als drei Stunden Weg lagen noch vor uns.
    Ich erinnere mich immer noch wohlig an die dunkle Wirtsstube in Oberstetten, in die wir eintraten, die mollige Wärme, die Geborgenheit nach der Frostnacht draußen, an den kleinen Christbaum mit bunten Kugeln und Engelshaar, das wir zu Hause nicht hatten. In der plötzlichen Wärme der Stube fielen mir die Augen zu.
    Am anderen Morgen erwachte ich in Tigerfeld im Bett. Die Oberstettener, voller Mitleid, hatten noch in der Nacht mit Hilfe der Polizei telefonisch einen Holzvergaserlastwagen beschafft, der uns nach Tigerfeld brachte – zum Ende des Jahres 1945!
    Es gab im Ort immer noch das Gasthaus zur
Krone
, dessen goldenes Wirtshausschild ich als Kind bewundert hatte und das früher, wie damals fast jede Dorfwirtschaft, sein eigenes Bier braute. Ich besitze noch Bierkrüge mit der Krone darauf aus dieser Zeit.
    Jahrzehntelang wurde erzählt, wie an einem Sonntagnachmittag, an dem die ganze restliche Familie des Kronenwirts bei der Hochzeit einer Verwandten war, der Wirt als Braumeister in seinem eigenen Braukessel ertrunken war. War der Tod im Bier ein schrecklicher oder ein schöner? Über diese Frage wurden im Ort Witze gemacht. Es wurde auch behauptet, dass der neue Kronenwirt das Bier aus dem Unglückskessel noch verkauft hat.
    Jetzt saß ein Italiener auf der
Krone
.
    Der Gastraum war rustikal wie in fast allen dörflichen Gasthäusern. Fachwerk war freigelegt worden und mit schwarzer Farbe gestrichen. Die Ausfachungen in der Trennwand zur Bar ersetzte
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