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23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV

23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV

Titel: 23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
Autoren: Karl May
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ERSTES KAPITEL
    Im Grabe
    Es war eine eigenartige Stimmung in welcher ich mich befand, als mich der Ustad hinauf nach der mir zugedachten Wohnung führte. Es war nicht Spannung noch viel weniger Neugierde. Ich hatte das Gefühl, als ob eine schon längst in mir lebende und doch niemals ganz in das Bewußtsein getretene Sehnsucht nun in Erfüllung gehen werde, als ob mir ein Glück bevorstehe, auf welches ich schon längst, aber ohne mein Wissen, vorbereitet worden sei. Warum war ich dabei so ernst, als ob auf jeder der Stufen, welche wir emporstiegen, eine Gestalt aus vergangenen Tagen stehe und stumm mahnend die Hand erhebe?
    Als wir oben vor der Wohnung des Ustad angekommen waren, sah ich eine zweite Treppe. Auf ihrer Biegung stand ein brennendes Licht. Er zeigte hinauf und sagte:
    „Du wirst da über mir wohnen. Und doch so tief, so tief, wie ich heut nicht mehr wohnen möchte!“
    Ich sah ihn fragend an. Da legte er mir die Hand auf die Schulter und fuhr fort:
    „Effendi, fürchtest du dich vor Gespenstern?“
    „Nein“, antwortete ich.
    „Oder vor Gräbern?“
    „Nein.“
    „So gehe hinauf, und schaue dich um! Ich lasse dich für kurze Zeit allein, komme dir aber dann nach oben nach. Ich könnte wohl noch besser sagen: nach unten, denn, mein Freund, du wirst bei Leichen wohnen. Du bist der erste und gewiß auch der letzte, also der einzige, der jene Gruft betreten darf, welche ich den Verstorbenen aus den verflossenen Tagen meines Lebens baute. Ich spreche in dunklen Worten; aber grad dieses Dunkel werde dir zum Licht! Das ist mein Herzenswunsch!“
    Er öffnete seine Wohnung nickte mir mit wehmütigem Lächeln zu und verschwand dann hinter der Tür. Ich ging weiter. Indem ich dies tat, kehrte alles, was ich bisher aus seinem Mund gehört hatte, zu mir zurück. Wie tief, wie bedeutungsvoll war jedes Wort gewesen! Aus welcher Höhe schaute jeder Gedanke dieses Mannes auf die Oberflächlichkeit gewöhnlicher Menschen nieder! ‚Freund‘ hatte er mich genannt. Wie alles so ungewöhnlich war, so durfte ich auch dieses Wort nicht in der umgangsüblichen Bedeutung nehmen. Er meinte es ganz zweifellos nicht leer, sondern voll. Ich konnte überzeugt sein, daß ich seinen Inhalt auch in mir selbst zu suchen und zu finden haben werde.
    Die zweite Treppe stieg in das Innere des Felsens hinein, an welchen sich die oberste Etage des ‚hohen Hauses‘ lehnte. Ich sah nur eine einzige Tür. Sie stand offen. Gedämpfter Lichtschein fiel heraus. Ich trat ein. Welch eine Überraschung diese ‚Gruft‘!
    Das war doch allem Anscheine nach das Studierzimmer eines europäischen Gelehrten! Es sah ganz so aus, als ob der letztere soeben erst den Raum verlassen habe, um aber gleich wieder zurückzukehren. War er Geograph? Ethnologe? Den Fußboden bedeckten die Felle wilder Tiere, denen die präparierten Köpfe, Klauen und Krallen gelassen worden waren. An den Wänden hingen neben den Kriegswaffen verschiedener Völker auch allerlei friedliche, aber interessante Gebrauchsgegenstände derselben. Neben einem höchst bequemen persischen Diwan stand ein indischer Perlmuttertisch, auf welchem einige aufgeschlagene Bücher lagen, als ob vor ganz kurzem noch in ihnen gelesen worden sei. Ich trat hin, um nachzuschauen. Ein geöffnetes neues Testament! Ein mit Tinte unterstrichener Vers: ‚Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, sollen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten!‘ Daneben ein beschriebenes, nicht losblätteriges, sondern eingebundenes Manuskript. Da, wo der Verfasser aufgehört hatte, lautete der Satz: ‚Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege. So spricht der Herr!‘
    Auf dem Schreibtisch brannte eine Lampe, deren Licht durch einen grünen Schirm gemildert wurde. Der letztere war von feinster Seide, von Frauenhand gestickt. Arabische Schriftzeichen, doch wohlbekannte Worte: ‚Die Liebe hört nimmer auf!‘ Als ich den Schirm emporhob, um diesen Wahrheitsspruch zu lesen, sah ich, daß es eine sogenannte Astrallampe war. Astral! Das erweckte eigentümlicherweise eine Erinnerung aus meiner Knabenzeit in mir. Ich hatte in einem alten Buch gelesen, daß es Astralgeister gebe, welche die uns unbekannten Sterne bewohnen. Meine kindliche Phantasie gab sich die größte Mühe, diesen Geistern Gestalt und Farbe zu erteilen, wobei sie natürlich zu den sonderbarsten Resultaten kam. Da hörte ich, daß der Rektor für seine Studierstube eine Astrallampe als Geburtstagsgeschenk bekommen
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