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23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV

23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV

Titel: 23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
Autoren: Karl May
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Geist – aufzugeben!“ wiederholte er. „Wie wahr wie wahr das ist! Sage mir: Hat man es zu tun? Muß man es tun?“
    „Warum fragst du mich, den Sterblichen? Frage den, der uns noch heut dadurch erlöst, daß er uns vorangestorben ist! ‚Vater in deine Hände befehle ich meinen Geist!‘, so rief er aus, indem er von seinen Leiden Abschied nahm. Sag mir, o Ustad, hast du dieses sein Beispiel befolgt? Hast du, als man dich deines Geistes wegen marterte, ihn so, wie er den seinen, dem Herrn befohlen? Hier liegt die Leiche; so sagtest du. Wohin aber ist ihr Geist gegangen? Hast du dich zwingen lassen, ihn aufzugeben? Hättest du ihn in die Hände seines Herrn gelegt, so würde er in diesem seinem Leib wieder auferstehen können, wie einst Isa Ben Marryam in ganz demselben Leib auferstanden ist!“
    Da setzte der Herr des ‚hohen Hauses‘ die Lampe langsam, langsam wieder auf den Tisch.
    „Warte, Effendi!“ sagte er.
    Dann ging er hinaus ins Freie, Schritt um Schritt, als ob er plötzlich eine schwere Last zu tragen habe. Als er schon draußen war, drehte er sich noch einmal um.
    „Glaubst du an eine Auferstehung solcher Toten?“ fragte er.
    „Ja!“ antwortete ich.
    „Wirklich?“
    „Ich glaube nicht nur an sie, sondern ich kenne sie sogar!“
    „Du?“
    „Ja, ich!“
    „So wollte ich, ich wäre du!“
    „Du kannst und darfst es sein; du brauchst es nur zu wollen!“
    „Effendi, Effendi! Für wen wurde hier diese Lampe wieder angebrannt? Für dich? Für mich? Für uns beide? Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege. So spricht der Herr! Warte! Laß mir Zeit!“
    Während er nun draußen vor der Tür verschwand, nahm ich das noch offen vor mir liegende Manuskript, um es zuzuschlagen. Es fiel mir der Titel in die Augen. ‚Geist und Wahrheit‘ lautete er. Da setzte ich mich nieder, das Buch in der Hand behaltend. Es war mir, als sei ich plötzlich müde, sehr müde geworden. War es eine wirkliche, körperliche Schwäche, die mich überkommen hatte, oder mußte ich mich unter der intellektuellen Wucht dieser beiden Worte niedersetzen? Wer ist der Mensch, daß er es wagt, trotz allem, was ihm dazu fehlt, an eine solche Arbeit zu treten?! Dieses Buch war ganz gewiß in jener Zeit der Jugend begonnen worden, für welche das Land der Möglichkeit fast ohne Grenzen ist. Wenn dann das Alter alles, was unter größter Kraftanstrengung für die Unmöglichkeit geleistet wurde, als unbrauchbar vernichten soll, so geschieht dies fast nie, sondern es wird in allen Winkeln aufgestapelt, um dann irgendeinem infalliblen Pessimisten als Beweis dafür zu dienen, daß auf der Erde alles, alles eitel sei.
    Es verlangte mich, dieses Manuskript lesen zu dürfen, und doch wäre ich wohl kaum mit Lust an diese Arbeit gegangen, weil ich mir ja sagen mußte, daß ich nicht damit einverstanden sein könne. So saß ich lange Zeit in beinahe trüben Gedanken da, bis der Ustad wieder hereinkam und mich abermals bat, mit ihm in die Bibliothek zu gehen.
    Ich stand auf und ließ unwillkürlich einen forschenden Blick an seiner Gestalt niedergleiten. War er ein anderer geworden? Es hatte sich weder an seiner Figur noch überhaupt an seinem sichtbaren Menschen etwas verändert. Und doch war es mir, als ob er nicht mehr so vor mir stehe, wie er mir unten an meinem Lager erschienen war. Es wollte mich eine Art von Beschämung über diese meine Undankbarkeit beschleichen; aber gegen dieses Gefühl stand in mir etwas auf, was mächtiger und, wie ich jetzt weiß, auch richtiger und gerechter war und mich aufforderte: „Schmeichle nicht dir selbst, indem du ihn zu schonen scheinst. Die Sonde, welche du an ihn legst, muß dich so wie ihn schmerzen!“ Er sah diesen meinen Blick auf sich ruhen und fragte mich:
    „Du schaust mich an. Du hast mein Werk da in der Hand. Lasest du vielleicht darin?“
    „Nur den Titel!“
    „Und darum dieser dein Blick?“
    „Ja.“
    „Ich verstehe dich. Geist und Wahrheit! Vielleicht hätte es besser geheißen: Geist oder Wahrheit!“
    „Auch das nicht.“
    „Also weder ‚und‘ noch ‚oder‘!“
    „Glaubtest du, dem Geist der Wahrheit durch Konjunktionen oder zufällige Konjunkturen nahetreten zu können? Indem du diesen Titel schriebst, hattest du das Werk geschrieben. Du brauchtest es gar nicht zu beginnen. Es mußte unvollendet bleiben. Aber der Geist, der sich an diese Aufgabe wagte, durfte trotz Kaiphas und Pilatus nicht von dir aufgegeben werden. Ich bin
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