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Ahoi Polaroid

Ahoi Polaroid

Titel: Ahoi Polaroid
Autoren: Sobo Swobodnik
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unscheinbaren Fleckchen Erde, umgeben von Wasser, so weit das Auge reichte, so zugewandt, dass er das Woanders gar nicht vermisste. Nicht die Welt. Nicht Deutschland. Nicht München. Sogar das Froh und Munter kaum. Zumindest für den Augenblick. Der könnte gut und gerne noch ein wenig anhalten, dachte er. Zumindest bis Vinzi wieder auf dem Damm war. Er kaufte sich eine Flasche Aquavit und quartierte sich in ein kleines, etwas schäbiges Hotel am Hafen ein. Er beschloss, diesem aus der Zeit gefallenen Ort noch etwas länger verbunden zu bleiben.
    In den ersten Stunden dieser Verbundenheit trank er die Flasche zur Hälfte aus und ging zweimal auf die Toilette. Wobei seine Harnröhre weder das eine noch das andere Mal brannte. Dennoch spukte ihm seine Prostata wieder im Kopf herum. Er dachte an Vinzis wackelnden Mittelfinger. Daran, ob er nicht auch selbst mal nach der augapfelgroßen Drüse fahnden sollte. Doch angesichts seiner Ungeübtheit würde das wohl kaum Sinn machen. Außer, die Prostata wäre schon so groß wie ein Tennisball. Dann war es ohnehin schon zu spät. Also ließ er es bleiben. Er setzte sich auf das Bett am offenen Fenster, steckte sich eine Zigarette an, sah hinaus und trank.
    Irgendwann schlief er dann im Sitzen ein. Und träumte. Aber nicht von Agnes. Nicht vom Boxkampf. Sondern von Vinzi. Von Swantje, den Liebermanns und dem fehlenden Finger des Schriftstellers. Und schon wachte er wieder auf.
    Lange konnte er nicht geschlafen haben. Vielleicht nur ein paar Minuten. Sekunden. Sekundenschlaf quasi. Vor dem Fenster sah es auf jeden Fall noch genauso aus wie zuvor. Über dem Hafen lag eine angenehme Ruhe, eine Anmut und Friedfertigkeit, die sich langsam auf Plotek übertrug. Nach dem Motto: Ich blicke so lange in den Abgrund, bis der Abgrund aus mir blickt. Nur umgekehrt. Soll heißen: Ich atme so lange die Ruhe, bis ich selbst die Ruhe bin. Der Aquavit hatte sicher auch seinen Anteil daran. Auch daran, dass er jetzt eine von Vinzis in Trondheim gekauften Postkarten aus seiner Tasche nahm und, für seine Verhältnisse fast schon euphorisiert, an Susi schrieb.
    Was für eine Reise – unbegreiflich. (Unglaublich.) Es ist ziemlich viel passiert. Ich komme mir vor wie in Sergio Corbuccis »Leichen pflastern seinen Weg«. Erzähl ich dir alles, wenn ich zurück bin. (Bald.) Jetzt bleib ich aber erstmal noch ein bisschen hier oben. (Nichts ist besser als gar nichts.) Gruß Plotek. PS. Grüß mir Agnes.
    Das PS strich er nach ein paar weiteren Aquavits wieder durch. Stattdessen schrieb er eine Zeile aus dem Rimbaud-Buch von Vinzi darunter. Die er zwar nicht verstand, die aber schön klang und es irgendwie auch auf den Punkt brachte: Da riecht es wieder nach Herbst! Blätter fallen. Gewässer haben Haut. Ich werde unruhig.
    Als es draußen schon dunkel wurde, beschloss Plotek, Vinzi im Krankenhaus zu besuchen. Vor dem Hotel, direkt am Hafen, blieb er überrascht vor einem Zeitungsständer stehen. In dem Drehständer steckte eine Zeitung, die seine Aufmerksamkeit einforderte. Es war eine deutsche Zeitung. Das war es aber nicht, was ihn verblüffte. Es war die Überschrift. Theatereinsturz im Badischen aufgeklärt stand da in dicken schwarzen Buchstaben. Darunter war zu lesen, dass der gehörnte Liebhaber einer am Stadttheater engagierten Schauspielerin vor Eifersucht zu diesem ungewöhnlichen, nicht Berge, aber immerhin Stadttheater versetzenden Mittel gegriffen hatte. Vielleicht hatte er sich auch nur ein bisschen wichtig machen wollen, um der grenzenlosen Liebe zu seiner Actrice einen explosiven Ausdruck zu verleihen. Da muss dann schon mal so ein Prachtbau aus den Siebzigern dran glauben. Also nichts mit Al Qaida, Terror, Plattentektonik, Erdbeben und schwächelndem Fundament. So banal können Katastrophen sein, dachte Plotek, und dann an seine eigene mit Agnes. Er steckte die Zeitung wieder zurück in den Ständer und ging zum Wasser hinunter. Dort nahm er das Amulett mit dem Porträt von Charlotte Liebermann aus der Hosentasche. Er klappte es noch einmal auf und dachte: schöne Frau. Dann klappte er es wieder zu. Er holte aus und warf es in hohem Bogen ins Wasser. Anschließend warf er den USB-Stick mit der belastenden Vergangenheit hinterher.
    Hernach steckte er die Postkarte an Susi in den Briefkasten.

Danksagung

    Der Autor dankt seinem Cheflektor Markus Naegele, den Lektoren Kristof Kurz, Tim Müller und Stefan Raulf sowie dem ganzen Heyne-Team für die kollegiale und beste Zusammenarbeit.
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